Kampf um Betreuung

Sandra Haupt (31) ist Mutter einer mehrfachbehinderten Tochter. Mit ihrer Facebook-Initiative „Lücke im System – Krippenplätze für Kinder mit besonderen Bedürfnissen fehlen“ will sie nun Bewusstsein für die Bedürfnisse betroffener Familien schaffen.

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Die Schwangerschaft verlief ohne gravierende Probleme. Bei Haupt wurde zwar Schwangerschaftsdiabetes diagnostiziert, allerdings sofort entsprechend behandelt. Alles im Lot also. „Im Grund war es eine Traumschwangerschaft“, erinnert sich die Mutter. Bei der Geburt dann: Komplikationen, Notkaiserschnitt, Sauerstoffmangel, ein Apgar von eins. „Laut Ärzten hätte sie in der ersten Nacht sterben sollen. Dann in der Woche darauf.“
Ende Juli feiert Lea ihren zweiten Geburtstag. Ihre Mutter beschreibt sie als „sehr sozial“. „Je mehr Leute da sind, je lauter, je turbulenter, umso glücklicher ist sie.“ Die Eltern würden sie daher gerne unter anderen Kindern sehen, idealerweise in einer Krippe, auch weil sie sicher sind, dass sie in so einer Umgebung Fortschritte in ihrer Entwicklung machen könnte.
Doch Krippen, in denen auf die Bedürfnisse von Kindern wie Lea Rücksicht genommen wird, gibt es nicht. Lea wurde bis vor Kurzem über eine Sonde ernährt, sie kann nicht krabbeln, nicht selbstständig sitzen, sie kann nicht sprechen, ist mit minus zehn Dioptrien extrem kurzsichtig und hat darüber hinaus auch eine Wahrnehmungsstörung, sodass man nicht weiß, welche Bilder in ihrem Kopf ankommen. Und Lea leidet an medikamentenresistenter Epilepsie.
Für mehrfachbehinderte Kinder wie Lea sind auch Plätze in Kindergärten oder bei Tagesmüttern rar gesät. Haupt kann das nicht nachvollziehen. Einerseits gehe es um die Förderung der betroffenen Mädchen und Buben. Andererseits kosten die Therapien, die Heilbehelfe, die Medikamente für solche Kinder viel Geld, und nicht alles wird von der Krankenkasse übernommen. Ohne Betreuung könnten aber nicht beide Elternteile arbeiten gehen, und es werde finanziell sehr eng. Wenn es denn noch beide Eltern gibt: „Viele Männer verlassen die Familie. Viele Mütter von mehrfachbehinderten Kindern sind also alleinerziehend und wissen nicht, wie sie finanziell über die Runden kommen sollen.“
Haupt und ihr Mann tun alles, damit Lea auch noch so kleine Fortschritte macht: Physiotherapie, Akkupunktur, Sehfrühförderung, Schwimmen, die Elternschule im Keil-Institut, wo eine Physiotherapeutin, ein Physiotherapeut einer kleinen Gruppe von Eltern zeigt, wie sie die Kinder selbst therapieren können: So sieht das ständige Programm der Familie aus. Fall- und phasenweise kamen beziehungsweise kommen Osteopathie, Cranio-Sacral-Therapie, Kinesiologie, Ergotherapie, Logopädie dazu. Das frisst das Familienbudget auf – denn die Pflegegeldstufe fünf, für die Haupt massiv, auch mittels Klage, kämpfen musste, bringt monatlich 820 Euro und deckt damit meist nicht alles ab, was die Krankenkasse nicht bezahlt. Dazu kommen teils Monate lange Spitalsaufenthalte. Mit aufgenommene Eltern müssen hier einen kleinen Selbstbehalt pro Tag berappen, der sich aber bei langer Verweildauer im Krankenhaus summiert.

„Insgesamt braucht es in der Gesamtbevölkerung mehr Auseinandersetzung mit dem Thema,
mehr Bewusstsein.“

Sandra Haupt

Kampf um das Notwendigste. Dass das Leben mit einem mehrfachbehinderten Kind ein ständiger Kampf ist, zeigt auch Haupts Ringen, dass sie nicht nur einen Spezialsessel für zu Hause, sondern auch einen speziellen Kinderwagen bekommt. Zuerst hatte man ihr geraten, den Sitzteil des Sessels mit einem entsprechenden Gestell auch als Kinderwagen zu verwenden. „Soll ich dann das Kind auf die Straße legen, während ich den Sitz montiere?“ Mehrmals wurde der Antrag abgelehnt, schließlich doch genehmigt. Ein solcher Kinderwagen koste über 5.000 Euro. Das hätte sich die Familie nicht leisten können.
Der Ruf nach Betreuung bereits im Krippenalter ist auch der finanziellen Frage geschuldet: Gerne würden Haupt und ihr Mann noch mehr in das Kind, in Therapien investieren. Doch mit dem 15-Stunden-Job, in dem Haupt – sie ist gelernte Friseurin und Nageldesignerin – nun im Verkauf (Sparte Nageldesign) arbeitet, macht die Familie keine großen Sprünge. Und schon diese 15 Stunden sind nur möglich, weil ihr Mann im Schichtbetrieb arbeitet und Lea betreut, wenn Sandra Haupt ihrem Job nachgeht.
Wenig rosig sehen auch die nächsten Jahre aus: Sandra Haupt hat noch keinen Kindergartenplatz für Lea gefunden, die Schule ist zwar noch in großer Ferne, aber im Kopf der Mutter schon jetzt sehr präsent. Die Eltern haben Lea im privaten Keil-Institut angemeldet, in dem mehrfachbehinderte Kinder betreut werden. Die Nachfrage nach Plätzen dort ist allerdings groß, und Lea ist auf einer Warteliste. Selbst dort müssen die Kinder allerdings um 14 Uhr abgeholt werden. Dass hier eine Vollzeitberufstätigkeit möglich sein kann, sieht Haupt daher auf lange Zeit nicht.
Was sich Haupt und ihr Mann wünschen: Betreuungseinrichtungen für Kinder wie Lea ab dem Krippenalter, in denen die Kinder von klein an nicht nur betreut, sondern auch therapiert und gefördert werden. „Das Zentrum für Entwicklungsförderung ist eine gute Einrichtung. Aber da fährt man immer wieder separat zu Terminen hin, macht Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie. Es bräuchte eben eine Tagesbetreuung, in der diese Angebote integriert sind.“
Für Lea erhoffen sich die Eltern, dass sie „eines Tages so selbstständig ist, dass sie nicht durchgehend auf jemanden angewiesen sein wird“. Gerne würden sie ihrem Kind auch „diese ganzen Gemeinheiten und blöden Blicke“ ersparen. Doch sie wissen, „dass es das nicht spielen wird“. Zumal sie jetzt schon erfahren haben, wie es ist, mit einem Kind unterwegs zu sein, das viele Menschen anstarren. „Als Lea noch die Sonde hatte, war es ganz arg. Dieses Starren, diese Blicke, dieses Verurteilen.“ Denn, so Haupts Erfahrung, oft würden Eltern wie sie eben verurteilt: Man nehme an, dass sie in der Schwangerschaft Drogen genommen oder Alkohol getrunken habe. Ihr persönlich sei das zwar noch nicht vorgeworfen worden, aber Bekannten schon. Man brauche also nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszumalen, was sich viele Menschen denken.
Insgesamt brauche es in der Gesamtbevölkerung mehr Auseinandersetzung mit dem Thema, mehr Bewusstsein, meint Haupt. Dazu will sie mit ihrer Initiative nun auch beitragen. Im Moment gebe es vor allem eine Vernetzung unter betroffenen Eltern – etwa auf der Plattform Lobby4Kids, einer Selbsthilfegruppe, der Haupt ebenfalls angehört und die sehr hilfreich und wichtig sei. Doch es müsse über den Betroffenenkreis hinaus Interesse an dem Thema geweckt werden.
Wie viele Aspekte bei einem Leben mit einem so stark beeinträchtigen Kind berücksichtigt werden müssen, zeigt auch die aktuelle Suche Haupts nach einer neuen Wohnung. Derzeit wohnt die Familie in einem Haus ohne Lift in der Leopoldstadt. Bis jetzt konnten sie auch über die Wohnplattform der Stadt Wien noch keine leistbare barrierefreie Wohnung finden. Doch die Zeit drängt: Lea wächst und wird schwerer. Schon öfter gewundert haben sich die Eltern auch, wie viele Ärztinnen und Ärzte Ordinationen haben, die nicht barrierefrei zugänglich sind. „Hier braucht es wirklich ein Umdenken.“
Es würden schon die Sorgen von Eltern wie den Haupts um das Wohlergehen des Kindes ausreichen. Die vielen Kämpfe um Therapien, um Kinderwagen, Betreuung, Barrierefreiheit: Sie machen das Leben von Familien mit stark beeinträchtigten Kindern doppelt und dreifach schwer.

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