Kein Dienst nach Vorschrift

Vor mittlerweile zehn Jahren kam Rabbiner Schlomo Hofmeister mit seiner Frau Hannah und dem damals gerade geborenen Sohn Josef Zwi von Jerusalem nach Wien, wo er zuvor am Rabbinerseminar Torat Schlomo eine klassische Rabbinerausbildung absolviert. Inzwischen haben die Hofmeisters fünf Kinder, und der Rabbiner hat nicht nur zu Hause alle Hände voll zu tun: Er ist für die Gefängnisseelsorge ebenso zuständig wie für Krankenbesuche, den jüdischen Religionsunterricht oder den Kontakt zu Behörden.

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Rabbiner Hofmeister. © Daniel Shaked

Meist beginnt sein Tag zwischen 5.30 Uhr und 6 Uhr mit Toralernen und endet nach Mitternacht mit Dingen wie dem Verfassen von Vorträgen, Briefen und Mails. Dazwischen: dicht getaktete Termine, von denen die Hälfte schließlich nicht so stattfinden wird, wie sie im Kalender stehen. Krisenintervention und Notfälle haben immer Vorrang: egal ob es um dringende Behördenangelegenheiten, plötzliche Erkrankungen oder Todesfälle geht. Die wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit liegt bei über 90 Stunden. „So wie das Leben selbst, ist mein Beruf eine ständige persönliche Herausforderung, bei der ich auch rabbinisch, fachlich und emotional immer wieder an meine Grenzen stoße.“ Rabbiner Hofmeister betont aber: „Mir macht meine Arbeit Freude. Alles, was ich tue, macht mir Freude, weil ich sehe, dass ich vielen Menschen helfen kann. Ich glaube, Rabbiner zu sein, ist definitiv der sinnvollste Beruf!“Im Wiener Rabbinat gibt es eine klare Aufgabentrennung: Rabbiner Arie Folger fungiert als Innenminister der Gemeinde. Er ist der Rabbiner des Stadttempels und als Oberrabbiner der IKG Wien verantwortlich für interne religiöse Angelegenheiten, die Wiener Friedhöfe sowie die ZPC-Schule und das Maimonideszentrum. Rabbiner Hofmeister ist mit einem Außenminister vergleichbar: Er hält Kontakt mit den österreichischen und europäischen Behörden, ist der österreichische Vertreter im Vorstand der Europäischen Rabbinerkonferenz, Präsident des Europäischen Mohalim-Verbandes, rabbinischer Vertreter bei allen politischen und gesellschaftlichen Themen, Rabbiner des Bundesheeres, zuständig für den interkonfessionellen Dialog sowie der vom Stadtschulrat eingesetzte Fachinspektor für den jüdischen Religionsunterricht in Österreich. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er jedoch mit der Betreuung der Wiener Jüdinnen und Juden im Lebenszyklus und in schwierigen persönlichen Situationen, wozu auch tägliche Haus-, Spital- und häufige Gefängnisbesuche gehören.

Immer im Gespräch, ob am Telefon, in Mails, oder in den täglichen Sprechstunden – so könnte man einen typischen Tag von Gemeinderabbiner Hofmeister beschreiben. Manchmal geht es um so Erfreuliches wie die Vorbereitung einer Brit Mila oder Hochzeit, manchmal um Brenzliges wie eine Ehekrise oder die Betreuung im Scheidungsfall, Hilfe bei Problemen mit Behörden, etwa in Aufenthalts- oder Obsorgefragen, Begleitung physisch und psychisch Kranker sowie Sterbender bis zur Unterstützung von Trauernden, die gerade ein Familienmitglied verloren haben.


»Mir macht meine Arbeit Freude.
Alles, was ich tue, macht mir Freude,
weil ich sehe,
dass ich Menschen helfen kann.«
Rabbiner Hofmeister

Rabbiner Hofmeister kennt die Wiener Spitäler inzwischen gut, vier davon sind am Schabbat in Gehweite. Besonders häufig ist er im AKH zu Besuch. Knappe 40 Minuten braucht er, wenn er zu Fuß unterwegs ist, am Wochentag fährt er jedoch Sommer wie Winter mit dem Fahrrad, nicht ganz freiwillig – „es ist nicht meine erste Wahl, ich hätte auch lieber ein Auto“ –, aber in der Innenstadt habe es sich als das rascheste Verkehrsmittel erwiesen. So bringt er morgens auch seine Kinder in den Kindergarten und in die Schule. „Das ist die einzige Zeit, die ich im Alltag außer Schabbes mit ihnen habe, für diesen Sommer habe ich mir aber fest vorgenommen, zumindest einmal im Monat einen Sonntagnachmittag mit ihnen zu verbringen.“

Manchmal kann die Radlerei aber auch ausufern. Zu Pessach brachte er auch schon einmal bis kurz vor Sonnenuntergang 16 Patienten Sederplatten in diverse Spitäler. Wer zum Beispiel erst am Freitag selbst im Spital aufgenommen wurde oder aber während des Jahres nicht koscher hält, zu Pessach aber sehr wohl und daher im Krankenhaus kein koscheres Essen bestellt hat, für den liefert die Küche des Maimonideszentrums dann auch keinen Sederbedarf. „Ich weiß, dass ich dafür nicht unbedingt selbst zuständig bin, aber als Rabbiner macht man eben keinen Dienst nach Vorschrift.“ Rabbinersein ist eben kein Beruf, sondern Berufung, bei der es weder begrenzte Arbeitszeiten noch begrenzte Zuständigkeiten gibt.

„Als Rabbiner muss ich für die persönlichen, familiären, beruflichen und privaten Sorgen und Belange der Menschen genauso da sein wie für ihre religiösen Anliegen und Bedürfnisse. So wie im traditionellen Judentum Religion und Alltag, Sakrales und Profanes sowie spirituelle und materielle Belange prinzipiell nicht voneinander zu trennen sind, so lassen sich auch die Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Rabbiners nicht auf religiöse oder halachische Bereiche eingrenzen. Wenn sich jemand an mich wendet, bin ich zuständig. Und ich bin verpflichtet, nicht nur meine rabbinische Kompetenz, sondern auch meine Erfahrung, meine akademische Ausbildung und den mir vom lieben G-tt gegebenen Menschenverstand einzusetzen und zumindest zu versuchen zu helfen“, betont er.

Seine Hingabe zum Rabbinerberuf beansprucht nicht nur ihn, sondern auch seine Familie. „Freizeit und Privatleben gibt es für einen Rabbiner quasi nicht. Wenn ich über Schabbat nicht in Wien bin, wer kümmert sich dann um den Kiddusch und die Havdala im Spital? Und vor allem brauchen Patienten in der Psychiatrie dringend die täglichen Besuche.“

Die Wiener Kultusgemeinde ist mit ihren 21 affiliierten Synagogen und Betstuben eine jüdische Gemeinde im klassischen Sinn. Jede Synagoge hat ihren eigenen Rabbiner, der für die meisten persönlichen Anliegen seiner Gemeinschaft zuständig ist. „Sehr viele der IKG-Mitglieder fühlen sich mit keinem der Wiener Synagogen oder ihren Rabbinern näher verbunden, und für all diese Menschen bin ich als neutraler Gemeinderabbiner der Ansprechpartner, wenn diese sich als säkular fühlende Juden mit ihren Sorgen dennoch an einen Rabbiner wenden möchten. Aber auch streng religiöse Frauen und Männer wenden sich zunehmend mit ihren Problemen und den unterschiedlichsten halachisch und rabbinisch relevanten Fragen an mich, die sie aus dem einen oder anderen Grund nicht mit dem Rabbiner ihrer Synagoge besprechen möchten.“

Für ihn und seine Familie sei Wien, seien die IKG und die Wiener Jüdinnen und Juden „unser Zuhause geworden“, betont Rabbiner Hofmeister. Vier der fünf Kinder sind hier zur Welt gekommen, und nach zehn Jahren Arbeit in und für die Kultusgemeinde „können sich meine Frau und ich nicht mehr vorstellen, in einer anderen Gemeinde zu leben“. Am Schabbes haben die Hofmeisters übrigens immer einen Platz an ihrem Festtagstisch frei. Tausende seien über die Jahre der Einladung gefolgt, jüdische Touristen ebenso wie alte und junge, religiöse und säkulare Gemeindemitglieder, Alleinstehende oder Paare. „Für jeden, der einen Platz am Schabbes braucht, steht unsere Türe offen.“ 

 

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