Leben in Jerusalem

Politikwissenschaftler Menachem Klein spürt dem gemeinsamen Leben von Juden und Arabern vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Darüber, wie er die aktuelle Situation in der Stadt sieht sprach er mit Marta S. Halpert.

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Wina: Als Politikwissenschaftler und Nahostexperte haben Sie zahlreiche Bücher über den israelisch-palästinensischen Konflikt geschrieben. Jetzt ist Ihre Kulturgeschichte der Stadt Jerusalem auf Deutsch erschienen. Darin schildern Sie ausführlich den Alltag der Juden und Araber vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart und skizzieren eine „gemeinsame, lokale Identität“. Sind Sie nostalgisch, was diese Periode betrifft, oder nur pessimistisch, dass diese Zeit so nie wiederkehren wird?

Menachem Klein: Nostalgie ist kein wissenschaftliches Kriterium, und mein Narrativ basiert vor allem auf Fakten, die die jüdischen und palästinensischen Quellen hergeben. Aber es ist richtig, dass die Beziehungen zwischen Juden und Arabern viel besser waren als heute. Was den Pessimismus betrifft, so bin ich eher dafür, aus der Vergangenheit zu lernen, denn die Zeit zurückdrehen geht nicht. Aber es gibt sicher einzelne Elemente aus früheren Epochen, die auch heute noch gültig sind und aus denen man Hoffnung für eine andere Zukunft schöpfen kann.

Sie zeigen uns die zunehmende Entfremdung zwischen Juden und Arabern, die 1948 mit der Gründung Israels verstärkt wurde und bis heute nachwirkt. Aber auch damals war es nicht nur paradiesisch?
Natürlich nicht, aber meine These lautet, dass es einen gemeinsamen Lokalpatriotismus von Juden und Arabern gab, schon lange bevor das britische Mandat über Palästina begann. Es gab eine arabisch-jüdische Identität, hauptsächlich unter den orientalischen Juden, und keinerlei Berührungsängste gegenüber den Muslimen der Stadt: Sie lebten und handelten miteinander ungeachtet der unterschiedlichen Religion.

Die große Tragödie ereignete sich, als beide Nationalbewegungen, die jüdische und die arabische, sich für einen exklusiven Patriotismus entschieden und ausschließliche Ansprüche auf dasselbe Territorium erhoben. Das war eine langjährige Entwicklung, das geschah nicht von einem Tag auf den anderen, und dieser Prozess endete im Jahr 1948.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation der Stadt?
Tragischerweise ist Jerusalem heute entlang der ethnischen Linien tief gespalten und wird von einer kleinen Schicht geprägt. Fast vierzig Prozent der Bevölkerung sind weder israelische Bürger, noch sind sie jüdisch.

»Wenn ein Abkommen
zwischen
Israel und den Palästinensern
zustande käme, würde diese Stadt aufblühen.«

Menachim Klein

Jede Gruppe hat ihre eigene Sprache, Nachbarschaft, Erziehungs- und Transportwesen, Geschäftszentren, andere Feiertage und Kultur und somit auch eine andere kollektive Identität. Es gibt gewalttätige Auseinandersetzungen, die das Zusammenleben erschweren. Jerusalem ist die größte und bevölkerungsreichste Stadt in Israel und hat die größte palästinensische Minderheit.

Wird Jerusalem bald mehrheitlich arabisch?
Jerusalem ist jetzt schon eine binationale Stadt. Der Versuch, die Stadt jüdischer zu machen, ist gescheitert, diese Erkenntnis sickert langsam auch den Politikern. Daher bemüht man sich jetzt um ein so genanntes „geografisches Konstrukt“, wie ich das nenne. Das heißt, man will die arabischen Nachbarschaften aus dem Jerusalemer Stadtgebiet ausgliedern, ihre Bewohner nicht mehr mitzählen und dafür jüdische Bewohner aus Gusch Etzion und anderen Siedlungen und Vierteln im Großraum Jerusalem einrechnen. Man denkt sogar darüber nach, arabische Viertel Jerusalems einer neu zu schaffenden munizipalen Behörde zu unterstellen. Man will einfach anders zählen. Ich sehe dabei nur den Versuch, sich die Lage schönzureden. Wir leben in einer binationalen Stadt, das ist die Realität.

Menachem Klein:
Jerusalem – geteilt, vereint. Araber und Juden in einer Stadt.
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag,
317 S., € 26,80

Hat nur Israel in der Jerusalem-Frage Fehler gemacht?
Natürlich nicht, die palästinensische Seite hat auch vieles falsch gemacht. Sie haben weder eine Führung noch eine Strategie und sind zu passiv, um sich friedlich kollektive Rechte herauszuschlagen. Der erfolgreiche zivilgesellschaftliche Protest gegen die Installierung von Magnetometern am Aufgang zur Al-Aqsa-Moschee, ohne Rücksprache mit der muslimischen Religionsbehörde, hat gezeigt, dass die Palästinenser trotz ihrer Unterlegenheit etwas erreichen können.

Was erwarten Sie sich von den Kommunalwahlen im Oktober 2018?
Die Mehrheit der Palästinenser wird die Wahl boykottieren, weil sie gegen die Annexion ist. Der Großteil der jüdischen Bevölkerung ist streng orthodox oder religiös-konservativ. Die Liberalen sind in der Minderheit, aber noch nicht besiegt. Im Gegenteil, sie kämpfen gegen die orthodoxe Dominanz und für eine pluralistische Gesellschaft. Zusätzlich hat jeder Bürgermeister große finanzielle Probleme, weil Jerusalem die ärmste Stadtverwaltung ist und nicht einmal die dringendsten Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung abdecken kann. Das Bild des realen Jerusalem unterscheidet sich ziemlich von seinem idealisierten Image.

Sehen Sie auch positive Anzeichen für Jerusalems Zukunft?
Ja, denn Jerusalem hat ein unglaubliches Potenzial. Wenn ein Abkommen zwischen Israel und den Palästinensern zustande käme, würde diese Stadt aufblühen. Auf zwischenmenschlicher Ebene wäre sicher die Normalisierung zwischen Juden und Arabern die positive Folge. Denn die Ost-Jerusalemer kennen die Israelis besser als alle anderen Palästinenser. Sie sehen weniger Soldaten und Polizisten als im Westjordanland. Jerusalem könnte die Stadt werden, in der die Beziehungen zwischen Juden und Arabern besser funktionieren als anderswo. Hier ist der Ort, an dem wir gemeinsam eine andere und bessere Stadt aufbauen können.

Bei den Friedensverhandlungen 2000 in Camp David gehörten Sie zu den Beratern des israelischen Teams in der Jerusalem-Frage, und 2003 waren Sie Mitunterzeichner der Genfer Initiative zum Nahostkonflikt. Im Sechstagekrieg waren Sie 15 Jahre alt, seither stehen auf Ihrem Schreibtisch die Granatsplitter, die 1967 auf Ihrem Bett landeten. War das der Auslöser, stärker für Frieden einzutreten?
1967 war ich noch kein „peacenik“, sondern euphorisch wie alle. Aber 1973 war ich schon im Jom-Kippur-Krieg und habe gesehen, wie meine Freunde getötet wurden. Was mich dennoch sicher stärker geformt und beeinflusst hat, war der Besuch des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat 1977 in Jerusalem: Nur vier Jahre nach dem Krieg wurde Frieden mit Ägypten geschlossen. Da war ich bereits mitten in meinem Nahoststudium und begann an den Antikriegsdemonstrationen teilzunehmen.


Menachem Klein studierte Nahost- und Islamwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem und ist heute Professor an der Bar-Ilan-Universität. Zweimal war er bereits Fellow am St. Anthony’s College an der Oxford University. Gastprofessuren absolvierte er am MIT in Boston sowie an der Leiden University. Zuletzt hatte er einen Forschungsauftrag am King’s College in London.
Lives in Common: Arabs and Jews in Jerusalem, Jaffa and Hebron wurde als eines der besten Sachbücher 2014 ausgezeichnet.

© Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

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