Ein Lied vom Frieden

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Sein ganzes Leben kannte Jitzchak Rabin nur Kriege. Doch als Israels Premierminister wird er sein Weltbild ändern und des Landes größter Hoffnungsträger für Frieden werden. Das Attentat auf ihn vor 20 Jahren, ausgerechnet durch einen Juden, hinterließ die ohnehin  gespaltene Gesellschaft unter Schock, dessen Nachwirkungen noch heute zu spüren sind.

Von Itamar Treves-Tchelet   

Auch 20 Jahre später werden viele Israelis meinen, dass sie diesen Samstagabend des 4. November 1995 noch in Erinnerung haben, „als wäre alles gestern passiert“. Ihre Perspektive würden sie drehbuchartig mit scheinbar unwichtigen Details zu schildern beginnen. Zum Beispiel, dass sie zu Hause vor dem Fernseher saßen. Es lief gerade Eis am Stiel.

Esty Segal war damals an der Friedenskundgebung am Platz vor dem Rathaus in Tel Aviv. „Die Aufregung war enorm“, erinnert sich die Linksaktivistin, „vergiss nicht, dass wir, die an den Friedensprozess glaubten, uns angesichts der schrecklichen Terrorwelle und der rechten Hetze lange Zeit ducken mussten. Dort fühltest du dich nicht mehr allein.“

Es war an dem Abend, als Premierminister Jitzchak Rabin die letzte Rede seines Lebens hielt, kurz bevor er erschossen wurde. Über ihn wurde oft gesagt, dass er kein Mensch großer Worte sei. Deshalb wurden die meisten seiner Reden von Eitan Haber, seinem Bürochef und Wegbegleiter, geschrieben. Bald wird Haber vor der Kamera stehen und der Welt die traurige Nachricht mitteilen.

Der ewige Soldat

Jahrelang war Rabin ein wichtiger Entscheidungsträger in Israel, vor allem wenn es um Verteidigungsfragen ging. Er wurde 1922 in Jerusalem geboren. Mit 19 wurde er vom angesehenen Palmach rekrutiert. Diese Einheit wurde dank ihrer offensiv militärischen Initiativen und Guerillaaktionen überall im Land verehrt. Doch die schweren Gefechte und die Erinnerung an seine gefallenen Kameraden werden ihn prägen.

„Wenn man Frieden will, muss man immer der sein, der zuerst die Hand reicht.“ Jitzchak Rabin

1964 übernahm er die Führung der israelischen Streitkräfte. Sein größter Erfolg war der Sieg im Sechs-Tage-Krieg 1967, als Israel sein Territorium vervierfachen konnte. Rabin wurde als Kriegsheld gefeiert. Um sich strategisch zu stärken, unterstützte die Regierung neue Siedlungen in den besetzten Gebieten. Mit der Frage der palästinensischen Bevölkerung im Land wird sich jede nachfolgende Regierung befassen müssen. Auch Rabins.

Die hohe Anzahl an toten Soldaten während des Jom-Kippur-Kriegs 1973 traumatisierte die israelische Bevölkerung, die das Vertrauen in die Staatsführung verlor. Mit dem Auftrag, den angeschlagenen Verteidigungsapparat zu stärken, tritt Rabin seine erste Amtszeit als Premierminister an. Die Siedlerbewegung erkannte ebenfalls die Führungskrise und nutzte dieses Vakuum, um neue Siedlungen aufzubauen. Rabin gab daraufhin den Befehl, diese illegalen Siedlungen zu stoppen. Er musste aber Zugeständnisse machen, als ihm heftiger Widerstand der Siedler entgegenwehte.

Während der ersten Intifada 1987 war Rabin Sicherheitsminister. Dies war jener Punkt, an dem Haber ein Umdenken bei seinem Chef erkannte: „Wir besuchten palästinensische Häftlinge im Gefängnis und trafen auf einen Mann, der auf einem Haufen Kartoffeln saß. Als er Rabin sah, erhob er sich und sagte: ‚Ihr werdet uns töten. Aber am Ende kriegen wir unseren Staat.‘ “ Rabin zeigte sich von dieser Haltung beeindruckt, erinnert sich Haber.

Mit der Überzeugung, dass Frieden unbedingt nötig sei, konnte er die Wahlen 1992 gewinnen.

Im Schatten des Terrors

Und so begannen die „Oslo-Tage“, benannt nach dem Friedensabkommen mit der PLO, das 1993 in der norwegischen Hauptstadt initiiert wurde. Demnach erklärte sich Israel bereit, den Palästinensern in den besetzten Gebieten schrittweise eine Selbstverwaltung zu ermöglichen, bis hin zur Bildung eines eigenen Staates. PLO-Chef Arafat versprach dafür, den Staat Israel anzuerkennen und den blutigen Konflikt auf friedliche Weise zu beenden.

Es waren Tage der Hoffnung. Der Glaube an einen greifbaren Frieden in Israel weckte das Interesse von Investoren aus aller Welt. „Oslo“ gab auch grünes Licht für das historische Friedensabkommen zwischen Jordanien und Israel im Oktober 1994. Zwei Monate später erhielten Jitzchak Rabin, Schimon Peres und Jassir Arafat den Friedensnobelpreis auf grund „ihrer Bemühungen, Frieden im Nahen Osten zu schaffen“.

Parallel versuchten aber Radikale auf beiden Seiten alles zu tun, um die Gespräche zu sabotieren. In Israel waren es vor allem die Siedler im Westjordanland, die sich durch die Konsequenzen aus „Oslo“ bedroht fühlten. Bei den Palästinensern war es die radikal-islamistische Terrorgruppe Hamas. Im Februar 1994 massakrierte der Arzt Baruch Goldstein, ein Siedler, 29 palästinensische Betende am Grab der Patriarchen in Hebron. Seine Frau sagte danach, er habe bewusst gehandelt, um den Friedensdialog zu stoppen. Die Hamas reagierte mit einer bis dahin noch unbekannten Terrormethode: Selbstmordattentate.

Chroniken eines politischen Mordes

Die Öffentlichkeit in Israel wurde durch die Terrorwelle in Panik versetzt. Die grassierende Furcht entlud sich teils als alltägliche Hetze gegen den Premierminister. Der Höhepunkt war einen Monat vor seinem Tod, bei einer Kundgebung der Oslo-Gegner in Jerusalem: Manche Demonstranten hielten Plakate, die ihn als SS-Offizier zeigten, während andere „Rabin, der Verräter“ und „Tod für Rabin“ skandierten. Ariel Scharon und Benjamin Netanjahu – beide zukünftige Premierminister – waren als Hauptredner dabei.

Die Hetze gegen Rabin wurde von einigen Rabbinern im Westjordanland religiös legitimiert, in dem sie ein Din Rodef gegen ihn ausgegeben haben. Dieses halachische Konstrukt beinhaltet die Pflicht, einen Juden zu töten, der das Leben oder Eigentum eines anderen gefährdet. Ob oder unter welchen Umständen dies auszuführen ist, bleibt unter rabbinischen Autoritäten kontrovers. Der Geheimdienst Schin Bet warnte vor Anschlagsplänen auf Rabin. „Jedoch glaubte er nicht, dass ein Jude ihm etwas antun könnte“, erinnert sich Haber, „er hat auch gesagt: ‚Diejenigen, die im Krieg um sich herum Tote gesehen haben, würden die Notwendigkeit des Friedens verstehen.‘ “

Am 4. November 1995 um ca. 21.30 Uhr wird Rabin zum letzten Mal auf die Bühne gerufen, um Schir LaSchalom (Lied vom Frieden, Anm.) zu singen. Dieses Lied ermutigt die Menschen, über Kriege hinwegzusehen und dem Frieden zuzujubeln. Gleichzeitig wartet Jigal Amir, ein rechtsradikaler religiöser Jude, am Parkplatz hinter dem Rathaus. Als Rabin an ihm vorbei­geht, schießt er dem Premierminister drei Mal in den Rücken.

Ein anderes Land. Israel wird in den kommenden Tagen in Trauer versinken. Sogar die Einbruchsraten werden zurückgehen. Vertreter aus 78 – darunter sieben arabischen – Ländern werden Rabin die letzte Ehre erweisen. Eine Sonderkommission wird untersuchen, wie es zu diesem Attentat kam. Jigal Amir wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Vor Gericht beruft er sich auf den Passus des Din Rodef.

Am neu ernannten Rabin-Platz werden sich tausende Jugendliche versammeln, um gemeinsam die Frage „Wie weiter?“ zu beantworten. Daraus wird die Organisation Dor Schalom (Generation Frieden, Anm.) entstehen – eine Hoffnungsträgerin für gesellschaftliche Veränderung. Esty Segal wird in diesem Rahmen Treffen zwischen israe­lischen und palästinensischen Jugendlichen organisieren. „Oslo war so aufgebaut, dass der Frieden durch zwischenmenschliche Begegnung beginnt“, erklärt sie, „wir dachten, dass wir so den Friedensprozess fortsetzten.“

Netanjahus Sieg bei den Wahlen 1996 läutet das Ende dieser Zusammenarbeit ein. Der Rückenwind von Dor Schalom wird nur noch dafür reichen, Ehud Barak zum Wahlsieg von 1999 zu verhelfen. Doch die Wiederaufnahme des Friedensprozesses in Camp David wird im Jahr 2000 scheitern und eine zweite – noch blutigere – Intifada wird folgen. Der nächste Versuch, eine neue Realität im Nahen Osten zu erschaffen, wird im Jahre 2005 initiiert. Aber auch nach der Auflösung der Siedlungen im Gazastreifen werden blutige Auseinandersetzungen nicht verhindert.

Zwischenzeitlich wird die Anzahl der Teilnehmer an den jährlichen Gedenkveranstaltungen für Jitzchak Rabin kleiner und kleiner. Esty Segal wird in Tel Aviv bleiben, „in der Blase“, wo sie heute an Sozialprotesten mitwirkt. Eitan Haber wird jeden Tag die Nachrichten verfolgen und stets über die verpasste Chance für Frieden nachdenken. ◗

Bild: © Flash 90

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