„Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen“

Die Männer der Mutter, die Frauen des Vaters. Lebenslang arbeitet sich Barbara Honigmann an den faszinierenden Biografien ihrer Eltern ab. Im Familienroman, den sie fortlaufend erzählt, wirft sie den Scheinwerfer mal auf den einen, mal auf die andere und mal auch auf sich, die Tochter, die sich lösen will und doch nicht loskommt, schon gar nicht vom Vater, den sie nun mit Georg schon das zweite Mal ins literarische Zentrum rückt.

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Barbara Honigmann: Georg. Hanser 2019, 160 S, € 18,50

„Erzähl weiter, Pappi“, bettelt Anna, und Georg erzählt. Von seiner geliebten Großmutter Anna, nach der er die erste und viele Jahre danach auch noch die zweite Tochter nennt, von der Schulzeit und seiner Jugend in Hessen. Von der väterlichen Ärztedynastie erfährt die Tochter ebenso wenig wie vom Judentum, dem sich bereits der Großvater entfremdet hat. Georg, dem „das Judesein ins Gesicht geschrieben“ ist, empfindet diese Herkunft nur noch als „miese Erbschaft“, denn nun gehöre er nirgendwo hin.
Das unbehauste Zwischen-den-Stühlen-Sitzen wird zum Lebensleitmotiv Georgs, der mit seinen Frauen immer auch deren Wohnungen und Freundeskreise verlässt und ausschließlich die Tochter als beständige Beziehung betrachtet.
„Mein Vater heiratete immer dreißigjährige Frauen. Er wurde älter, aber seine Frauen blieben immer um die dreißig.“
Annas Mutter Litzy, seine zweite Frau, lernt er in England kennen, wo sie beide als jüdische Emigranten in kommunistischen Kreisen verkehren. Litzy Kohlmann, aus religiöser Familie stammend, kam aus Wien und war davor mit Kim Philby verheiratet, einem später berühmten britischen Doppelagenten. Dieser spannenden Muttergeschichte hat Barbara Honigmann in Ein Kapitel aus meinem Leben bereits ein Denkmal gesetzt.

Kommunistischer Adel. Von kommunistischer Mission beseelt, geht das Paar in die DDR, wo Anna bis zur Scheidung der Eltern in einer Villa mit Kindermädchen recht privilegiert aufwächst. Dieses elitäre bildungsbürgerliche Milieu von Künstlern und Intellektuellen, zu dem etwa der Komponist Hanns Eisler zählte, der für Georgs dritte Frau Gisela May Songs schrieb, sieht Honigmann aus der Perspektive des Kindes, das an den Wochenenden von einem Wohnort zum anderen, vom Sommerhaus am See zu den Auftritten der „Schauspielerin“ und zu diversen Künstlerlokalen mitgeschleppt wird.
Nicht nur nebenbei erzählt sie dabei mit jeder väterlichen Lebensstation auch ein Stück deutsch-jüdischer Zeitgeschichte, blendet zurück bis in die Vorkriegszeit und in die Emigrantenszene in England, wo Georg als Journalist erfolgreich war, und leuchtet schließlich den „antifaschistischen Adel“ in der DDR aus, der mit proletarischen Arbeitern kaum in Berührung kam. Recherchen der Tochter in den „Files“ des englischen Geheimdienstes und in den Stasi-Akten dokumentieren Georgs wohl beobachtete Aktivitäten in beiden Welten. An seiner ideologischen Festigkeit zweifelt sie allerdings. Während er seine „langweiligen propagandistischen Bücher“ schreibt, vertieft er sich gleichzeitig in die Emanzipationsgeschichte der Juden und damit in seine eigene Familiengeschichte. Obwohl bereits als Baby getauft, wird er seinem Wunsch gemäß am Jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee begraben.

„Er war einfach ein charmanter, unwiderstehlicher Misanthrop“, bilanziert die Tochter, die sich seiner Verführungskraft über dessen Tod hinaus offenbar nicht entziehen kann. Eine Liebe aus nichts hieß das erste Vaterbuch 1991, dem nun mit Georg die zweite Liebeserklärung folgt. In Honigmanns typisch autofiktionalem Erzählen – Persönliches wird kaum verhüllt literarisiert und Barbara wieder einmal zu Anna – ist es ein weiterer Puzzlestein in ihrem schillernden Familienkosmos, der manchen Lesern bereits vertraut erscheinen mag.
1984, im Todesjahr des Vaters, hat Barbara Honigmann seine Welt und die DDR verlassen und sich in Straßburg dem religiösen Judentum mit dem Eifer einer Bekehrten zugewandt. Ein sichtbarer Schnitt und Schritt, und doch ist nahezu das ganze Werk der nunmehr 70-Jährigen ein fortgeschriebener „Roman von einem Kinde“, wie ihr erster Erfolgstitel hieß.

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