„Die Menschlichkeit besiegt die Grausamkeit“

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Der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien führte eine prominente österreichische Delegation beim March of The Living an. Seine Botschaft: Der Holocaust bleibt als ewige Mahnung. Von Margaretha Kopeinig.

Mir ist ganz übel, wenn ich daran denke, was hier passiert ist – und worauf ich jetzt gerade gehe. Die Asche der Ermordeten von Auschwitz wurde auf die Wege gestreut, in den Fluss geworfen oder als Dünger verwendet.“ Die 17-jährige Schülerin eines Wiener Gymnasiums spricht langsam, nachdenklich nähert sie sich Auschwitz-Birkenau. Schlote abgebrannter Baracken ragen in den Himmel, die Ruinen der Krematorien und Gaskammern erinnern an das Unfassbare, an den Massenmord der Nazis an sechs Millionen europäi-schen Juden. Als der Gedenkzug sich dem Vernichtungslager Birkenau nähert, werden monoton die Namen ermordeter Kinder auf Englisch verlesen: Sarah, drei Jahre; Samuel, neun Jahre; Rafael fünf Jahre … Nach Angaben von Historikern wurden 234.000 Kinder und Jugendliche in Auschwitz getötet, 220.000 davon waren Juden.

„Das darf nie wieder passieren, Auschwitz ist eine ewige Mahnung für uns alle.“ Marko Feingold

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Anna P. ist still und sagt lange nichts, doch dann kommt es plötzlich aus ihr heraus: „Es ist unvorstellbar, was Menschen anderen Menschen antun können. Diese Bestialität ist unbegreiflich.“ Anna P. gehört einer österreichischen Schülergruppe an, die am 16. April dieses Jahres am March of The Livingteilgenommen hat. Rund 500 Schüler der 7. Klasse sind mit ihren Lehrern und Begleitern schon vor dem offiziellen Gedenken zum Jom Hashoa nach Auschwitz gereist, um sich „ein Bild zu machen, was hier am zentralen Ort des industriellen Völkermordes geschah“, betont Felix P. aus Wiener Neustadt.

„Hier ist der größte Friedhof der Welt“, erwähnt Oskar Deutsch, der Präsident der Israeltischen Kultusgemeinde (IKG) im Gespräch mit Journalisten. Nach seiner Teilnahme am March of The Living vor zwei Jahren war er entschlossen, heimische Politiker und Medienvertreter einzuladen. Deutsch hat es realisiert: In diesem Jahr leitete er eine prominent zusammengesetzte österreichische Delegation, die am Gedenkmarsch in Auschwitz teilnahm: der zweite Nationalratspräsident Karlheinz Kopf, Unterrichts- und Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek, Grünen-Chefin Eva Glawischnig, Wiens Stadtschulratspräsidentin Susanne Brandsteidl, Beamte des Innenministeriums, zahlreiche Mitglieder der Kultusgemeinde sowie Überlebende des Holocausts.

Unendlich lange Menschenkette

Der IKG-Präsident führte mit hochrangigen jüdischen Vertretern aus Israel den Gedenkzug an, der am Eingangstor von Auschwitz mit seiner zynischen und verhöhnenden Aufschrift „Arbeit macht frei“ begann. Unüberschaubar lang war die Menschenkette, die sich langsam in das drei Kilometer entfernte Birkenau bewegte. Israelische Flaggen waren weithin sichtbar. Gruppen aus Panama, Mexiko, Argentinien, Brasilien, Chile, Kanada, den USA und anderen Ländern trugen stolz ihre Herkunftsschilder. „Ich bin hier, um deutlich zu machen, dass die von Deutschen begangenen Verbrechen und Massenmorde niemals vergessen werden dürfen“, mahnte ein 89-jähriger Überlebender, der aus Panama-City angereist kam.

Die vielen Jugendlichen, die am Gedenkmarsch teilnahmen, waren am späten Nachmittag des 16. April auch die Adressaten der Redner bei der berührenden Abschlusszeremonie in Birkenau. Die jüdischen und nicht-jüdischen jungen Menschen seien diejenigen, die die Erinnerung an das Grauen des Nationalsozialismus weitertragen, damit so etwas nie wieder passiert. Es gab Videobotschaften des israelischen Präsidenten Reuven Rivlin, und erstmals meldete sich auch Papst Franziskus zum Holocaust-Gedenktag Jom Hashoa an die Teilnehmer des March of The Living zu Wort.

20150415_MOL_IMG_1172_FINALS-day2-Auschwitz_HR„Es geht darum zu erinnern, dass Juden ermordet wurden, weil sie Juden waren“, sagte mit bewegter Stimme Oskar Deutsch. Für ihn seien aber „die vielen jungen Leute, die aus Israel und anderen Ländern nach Auschwitz kommen, ein Zeichen dafür, dass die Menschlichkeit die Grausamkeiten besiegt. Das ist für mich ein starkes emotionales Gefühl. Das ist heute der Spirit von Auschwitz.“ Deutsch forderte, wie viele andere Teilnehmer und Unterrichtsministerin Heinisch-Hosek, die Gesellschaft auf, „wachsam zu bleiben. Antisemitismus, Rassismus und Nationalismus nehmen zu, in den vergangenen Jahren war der Hass des islamistisch motivierten Antisemitismus zu spüren und deutlich zu sehen, wie die Terroranschläge in Frankreich, Belgien und Dänemark zeigen“, betonte der IKG-Präsident. SPÖ-Politikerin Heinisch-Hosek versprach, Maßnahmen gegen antisemitische Tendenzen zu ergreifen, „um die Demokratie zu stärken“.

Reden gegen den Vernichtungswahn der Nazis, Information und Aufklärung sind seit seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald die Mission des Holocaust-Überlebenden Marko Feingold. Ende Mai begeht er seinen 103. Geburtstag. Die Leidenschaft, mit Jugendlichen zu diskutieren, ihnen alle Fragen zu beantworten, hat er nicht verloren, Witz und Charme sind ihm bis heute geblieben. Er ist beeindruckt, wie sensibel, interessiert und respektvoll sich die Jugendlichen dem Thema Holocaust annähern und welche Schlüsse sie daraus ziehen. „Das darf nie wieder passieren, Auschwitz ist eine ewige Mahnung für uns alle“, sagt Felix P. bei dieser Open-Air-Geschichtestunde.

Margaretha Kopeinig, KURIER-Redakteurin, nahm auf Einladung der IKG am March of The Living teil.

Bilder:  © Uriel Morgenstein; Stanislaw Rozpedzik /picturedesk.com; Flash90

 

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