Musikalisches Multitalent mit Geschäftssinn

Der Wahlwiener Aleksey Igudesman hat mit Freunden den Music Traveler gegründet, eine Internetplattform, die Proberäume für Hobby- und Profikünstler vermittelt.

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© Reinhard Engel

Er ist ein vielseitiger, humorvoller Ausnahmekünstler, als Geiger und als Komponist: Aleksey Igudesman gönnt sich kreative Träume, aber er ist auch Realist, daher kennt er die beruflichen Bedürfnisse seiner Musikerkollegen. „Ich bin mein Leben lang mit Menschen zusammen, die immer auf der Suche nach einem Klavier zum Üben waren. Das fing bei meiner Mutter an, der wunderbaren Pianistin Nina Igudesman“, erzählt Aleksey. „Ich sagte, machen wir Ferien, und sie jammerte, aber ich muss doch üben. Es war ein ständiger Albtraum. Versuchen Sie, in Hongkong ein Klavier zu finden, ohne die Sprache zu verstehen.“ Um dieses Problem zu lösen, ging Igudesman jüngst unter die Unternehmer: Er gründete gemeinsam mit der amerikanischen Pianistin Julia Rhee den Music Traveler, eine Internetplattform, die Übungsräume in jeder Größe für professionelle, aber auch Hobbymusiker sowie Musikstudenten in Österreich und bald auch in Berlin, London und New York anbietet.

„Je älter ich wurde,
umso besser habe ich Wien verstanden und
auch gelernt, das Grantige daran zu lieben.“
Aleksey Igudesman

Der 1973 in Leningrad (inzwischen wieder St. Petersburg) geborene Igudesman lebt seit 27 Jahren in Wien und fühlt sich hier zuhause. Seine vielfältige künstlerische Arbeit führt ihn immer wieder auf Konzertbühnen in ganz Europa, in Tonstudios zu Aufnahmen klassischer oder eigener Kompositionen und Filmmusik und zur Realisierung diverser TV-Shows. „Ich habe das Glück, dass ich als Geiger auch auf der Toilette üben kann. Das ist vielleicht nicht sehr appetitlich, aber zur Not geht es“, lacht er. „Aber ernsthaft: Bei meinem Showpartner, dem englisch-koreanischen Pianisten Hyung-ki Joo, habe ich oft genug erlebt, wie er in einer Stadt stundenlang herumtelefoniert hat, um für zweieinhalb Stunden ein Übungszimmer zu finden. Dann musste er noch eine halbe Stunde für die Anreise vergeuden.“
Mit dem Music Traveler kann das Leben der gastierenden Künstler, aber auch jenes der musikbegeisterten Amateure wesentlich erleichtert werden. Die derzeitigen Angebote reichen von einem Proberaum mit Steinway-Flügel im ersten Bezirk um zehn Euro die Stunde bis zu einer Halle für Tänzer um 70 Euro die Stunde oder einen repräsentativen Konzertsaal um 1.200 Euro. „Mit einem Knopfdruck kann man über unsere Website geeignete Räumlichkeiten buchen“, freut sich Igudesman, der den Begriff Airbnb für Proberäume gar nicht ablehnt. Auch private Haushalte, die Zimmer und Instrumente zur Verfügung stellen, können sich nämlich als Hosts auf der Webseite anmelden. Für diese privaten Vermieter ist jede Buchung mit einer Versicherung gekoppelt, sodass mit einem Euro sowohl Instrumente als auch Mobiliar bis zu 100.000 versichert sind – sollte ein Künstler in einer Privatwohnung zu temperamentvoll werden. „Viele Menschen haben Instrumente, die nicht mehr gespielt werden, dann ist es doch wunderschön, wenn jemand kommt und diese Instrumente wieder zum Leben erweckt,“ so der Jungunternehmer. „Denn Musik sollte immer gegenwärtig sein und unser Leben immer und überall begleiten.“

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Ähnlich hat ihn die Musik von klein auf begleitet: Igudesmans Vater war langjähriger Konzertmeister eines bekannten Orchesters und hatte als Jude vorerst keine größeren Probleme. Erst als sein älterer Sohn, auch ein Geiger, legal aus der Sow­jetunion auswanderte, begann sukzessiv das berufliche Kaltstellen des Vaters. „Er hatte plötzlich weniger zu tun und bekam auch keine Preise mehr. Wir hatten zwar kein Land, aber eine Nationalität, für die wir geradestehen mussten“, erzählt Igudesman von der Diskriminierung der Familie.
„In unseren Pässen stand unter ‚Nationalität‘ jüdisch und nicht russisch. Und auf einmal waren ‚zu viele Juden‘ am Konservatorium, ihre Aufnahme wurde zahlenmäßig begrenzt.“ Da wusste Igudesmans Vater, dass es um die Chancen für das jüngste Talent in der Familie sehr schlecht bestellt sein würde. 1979, Aleksey war sechs Jahre alt, wanderte die Familie aus. „Im religiösen Sinn haben wir nicht jüdisch gelebt, aber Gefilten Fisch habe ich schon mal gegessen.“ Mit zwei Großmüttern und ein paar hundert Dollar in der Tasche kam die Familie in Wien an. Während man noch überlegte, ob man nach Israel weiterwandern sollte, fand der Vater in Bremerhaven eine Stelle als Geiger. „Wir waren damals die ersten russischen Juden in der Stadt, heute ist das anders“, erinnert sich Igudesman. Als Aleksey elf Jahre alt war, starb sein Vater und künstlerischer Mentor. Doch die Mutter gab nicht auf: Kurz darauf schaffte er die Aufnahmeprüfung an der angesehenen Yehudi Menuhin School nahe London. „Das ist ein Internat für 45 Kinder im Alter von acht bis achtzehn Jahren, die besonders bekloppt, pardon, begabt sind. Ich war vier Jahre lang dort.“

Die Igudesman-Rachlin-Connection. Noch eine Musikerfamilie war gleichzeitig mit den befreundeten Igudesmans nach Wien emigriert: die Eltern Rachlin mit dem fünfjährigen Julian. Mutter Sophie, Pianistin, fand zuerst eine Stelle als Korrepetitorin am Konservatorium Wien; sein Vater kam als Geiger bei den Tonkünstlern unter. Aber Julian wollte unbedingt Arzt werden, bis – ja bis er den ein Jahr älteren Freund Aleksey Violine spielen hörte. „Wir haben mit meinem Vater nur so zum Spaß das Doppelkonzert von Bach gespielt, und plötzlich rief Julian: ‚Ich möchte so spielen wie Aleksey, ich möchte so spielen wie Aleksey‘ “, erzählt der zum Vorbild Erkorene. „Er hat keine Ruhe mehr gegeben, hat also wegen mir zu spielen begonnen. Als Julian dann mit dreizehn Jahren 1988 den Eurovision-Young-Musicians-Wettbewerb gewonnen hat, habe ich gerufen: ‚Ich möchte so spielen wie Julian!‘“ Das Ergebnis: Beide studierten bei Boris Kuschnir und sind Absolventen des MUK, der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien.
„Die Stadt ist zu meiner wahren Heimat geworden. Wenn man viel reist, lernt man Wien erst richtig schätzen“, schwärmt der Komponist, der seine eigenen Werke oft als Sologeiger oder Dirigent zum Erklingen bringt, unter anderem mit der Kremerata Baltica oder dem Lucerne Symphony Orchestra. Seine Zusammenarbeit mit dem Filmkomponisten Hans Zimmer für den letzten Sherlock Holmes-Film wurde 2010 für den Oscar für den besten Soundtrack nominiert. „Wien hat sich sehr stark verändert, es ist viel weniger ‚östlich‘ und auch weniger antisemitisch. Ich habe das früher unterschwellig oft gespürt. Je älter ich wurde, umso besser habe ich die Stadt verstanden und auch gelernt, das Grantige daran zu lieben.“
Daher wollte Igudesman sein Projekt Music Traveler von hier aus starten. „Die Recherchen und Vorbereitungen haben mehr als zwei Jahre gedauert. Die Wiener Wirtschaftsagentur hat das Potenzial für die Stadt erkannt und uns von Anfang an unterstützt“, freut sich der Künstler, dem es gelang, einen internationalen Beirat für die Plattform zu gewinnen. Mit dabei sind der US-Schauspieler und Regisseur John Malkovich, der mit seinen eigenen musikalischen Produktionen, wie Infernal Comedy oder Giacomo Variations, das Problem von seinen Tourneen gut kennt, der Sohn von Beatle-Legende John Lennon, Sean, der US-Musiker Billy Joel, der Filmmusikguru Hans Zimmer und Ex-Philharmoniker-Vorstand Clemens Hellsberg. „Meine eigenen Türen habe ich längst für andere Musiker geöffnet. Sie sind so dankbar, dass sie auf meinem tollen Steinway üben können. Und sie bekommen auch Wasser, Früchte und alte Kekse …“

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