Nino Loss: Ich lasse mir mein Wien nicht schön reden

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Foto: Ronnie Niedermeyer

„Wien?“ kam es immer wieder mit Entsetzten. „Nach Jahrzehnten in Paris, New York und Tel Aviv, willst du wieder nach Wien? Das meinst du doch nicht ernst?“ Doch irgendwie mag ich Wien. Seit der Ost-Öffnung ist die Stadt kontinuierlich gewachsen und hat dabei einiges an altem Muff verloren. Der österreichische Opfermythos wurde in den 1990er-Jahren offiziell gebrochen, die meisten alten Nazis sind tot – leider auch fast alle Zeugen. Doch erst das Internet hat es mir ermöglicht, überall zu arbeiten und mir selber auszusuchen, wo ich lebe. So wurden Stadtpark, Wienerwald und Alte Donau die Schauplätze, wo ich mit meinen Kindern das Vorbeiziehen der Jahreszeiten beobachte. Trotzdem lasse ich mir mein Wien nicht schönreden, auch nicht von der X-ten Studie über die Lebensqualität. Beruhigt stelle ich fest, dass der „OECD Better Life Index“ etwas nuancierter ist. Warum also Wien? Vermutlich weil meine Eltern hier leben; weil hier meine Sprache gesprochen wird; weil das Wiener Hochquellwasser so gut mundet? Nein, meine Welt sind die Bücher. Und viele der Ideen, die unsere Kultur so maßgeblich geprägt haben, stammen eben aus Wien. Meist sind diese im Kaffeehaus entstanden und hatten dort auch ihre Bühne. Dort versuche ich – bei Mehlspeis’ und Mokka – ihre Spuren zu entziffern.

Tipp: Im kleinen aber traditionsreichen Café Korb fand sich für einige Zeit die Mittwoch-Gesellschaft ein – so hieß der psychoanalytische Arbeitskreis um Sigmund Freud. Heute ist Susanne Widl Besitzerin und Oberpriesterin des Cafés, das sie als Andachtsraum für Elfriede Gerstl, Elfriede Jelinek und Valie Export eingerichtet hat.

• Nina Loss: Als Bub in der ausgehenden Bruno-Kreisky-Ära zwischen Wien und Budapest aufgewachsen, lebt er nach Belleville, Brooklyn und Bnei-Brak jetzt wieder auf der Boboinsel des 2. Wiener Gemeindebezirks. Hier entsteht auch, genährt durch ein Pariser Studium des Kinos und der Philosophie, sein Foodblog Schibboleth.com. •

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