Noch bevor das Tote Meer STIRBT…

Das Tote Meer wird als tiefster Punkt der Erde bezeichnet. Dieses Naturphänomen in der Judäischen Wüste sollte man noch gesehen haben, bevor es zu einer Lacke verkommt. Und wenn man eine idyllische Alternative zu den modernen Hotelkästen sucht, dann ist der Kibbuz Ein Gedi genau die richtige Wahl.

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von Daniela Segenreich

Diesen Herbst kehrte der amerikanische Fotograf Spencer Tunick ein weiteres Mal zum Toten Meer zurück, um eine Gruppe von Volontären zu fotografieren, die für sein Ausstellungsprojekt nackt im Salzwasser stehen oder an der Oberfläche floaten – das Wasser hier ist bekanntlich so salzhaltig, dass man prob­lemlos darauf sitzen und Zeitung lesen kann. Bei einer ähnlichen Aktion vor fünf Jahren hatte der Künstler 1.200 nackte Menschen im Toten Meer abgelichtet. Beide Male war es für einen guten Zweck, nämlich um der Allgemeinheit bewusst zu machen, dass dieses einzigartige Naturwunder in Kürze so gut wie völlig verschwinden wird, wenn nichts getan wird. Es geht darum, das Meer vor dem Austrocknen zu retten und zu verhindern, dass das Wasser weiterhin jedes Jahr um über einen Meter zurückgeht. In der zurückgebliebenen ausgetrockneten Erde an der Küste brechen immer mehr riesige Dolinen auf, Senklöcher, die die umliegenden Strände und Straßen zerstören.

Eine Wüste voller Blüten. Am Weg hinauf zum Kibbuz Ein Gedi, der etwa vierhundert Meter über dem Meer liegt, sieht man von diesen drastischen Veränderungen noch kaum etwas. Gemütlich überquert eine Herde von einigen Dutzend Ibex, Wüstengazellen, vor uns die sandige Zufahrtsstraße. Dann geht es die letzten Meter weiter zur Rezeption des Feriendorfs. Hier hatten die Pioniere, die den Kibbuz vor sechzig Jahren errichtet haben, die ersten Hütten erbaut. Als sie dann später in bessere Behausungen umzogen, dienten die leeren Holzbaracken als Unterkunft für Israelis und Touristen, die zum Toten Meer kamen, um Gelenksentzündungen und Hautkrankheiten zu lindern. Heute stehen hier schmucke Gästebungalows, jeder mit einer kleinen Terrasse, von der man entweder auf das Meer hinunter sieht oder in den botanischen Garten des Kibbuz, dessen seltene Pflanzen aus aller Welt der Stolz der Pioniere sind. Sie haben buchstäblich die Wüste zum Blühen gebracht, denn durch das spezielle milde Klima und die ständige Bewässerung wächst hier alles doppelt so schnell.

In der Mitte der großen Rasenfläche hinter dem Rezeptionsgebäude thront majestätisch ein riesiger Affenbrotbaum, auch Baobab genannt. Er ist wohl der größte im Kibbuz, aber nicht der einzige und, wie wir später bei einer Tour durch den Garten erfahren sollen, viel größer als seine Artgenossen im Rest des Landes und besser erhalten als die meisten Baobabs in Afrika. Vorbei an blühenden Sträuchern führen schmale Pfade zu unseren Zimmern an der Nordgrenze des Kibbuz, von deren überdachten Holzterrassen man über das Meer sieht, das in der Mittagssonne türkis glitzert, und auf die Judäischen Berge.

„Dieses einzigartige Naturwunder wird in Kürze so gut wie völlig verschwinden, wenn nichts getan wird.“

Die Gleichheit ist nicht mehr. Luxus und Kibbuz passen ja eigentlich gar nicht zusammen, aber die Kibbuz­bewegung musste mit der Zeit gehen. Im neuen Kibbuz-Café gibt uns Mani Gal, der seit fünfzig Jahren hier lebt, einen Überblick über die ideologischen Veränderungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten hier stattgefunden haben. Die Zeiten, als noch alle gleich viel verdient haben, egal welche Arbeit sie ausübten, sind lange vorbei. Was noch von der ursprünglichen Ideologie der Gleichheit übrig geblieben ist, sind die Subventionen auf einige Grundnahrungsmittel im Kibb-Supermarkt und die Unterstützung, die der Kibbuz jenen Mitgliedern zukommen lässt, deren Einkommen kleiner als der gesetzliche Mindestlohn ist. Die Möglichkeit für ein gemeinsames Mittagessen im Speisesaal und das gemeinsame Festmahl am Freitagabend sind noch Überreste der alten Ordnung, allerdings müssen diese Mahlzeiten bezahlt werden und sind nicht mehr, wie einst, gratis. Mani bedauert diese einschneidenden Änderungen.

Als der heute Siebzigjährige im Alter von einundzwanzig Jahren nach Ein Gedi kam, lebte hier nur eine kleine Gruppe von jungen Männern und Frauen, die den Kibbuz aufgebaut, die Dattelhaine an der Küste und den botanischen Garten hier oben um die Wohneinheiten angepflanzt hatten. Heute leben hier knapp sechshundert Menschen, etwa die Hälfte davon sind fixe Kibbuzmitglieder. Der Rest sind junge Leute und Aussteiger, die dem Stadtleben entkommen wollen. Viele Kibbuzmitglieder und -bewohner arbeiten außerhalb der Gemeinschaftssiedlung, wobei sie ihr Gehalt nicht mehr wie früher abgeben und teilen müssen.

Vom fünften in den zweiten Gang schalten. Auch vom Hotelpool besticht der ungetrübte Blick hinunter zum Meer, das inzwischen tiefblau ist, mit einigen türkis schimmernden Flecken und den rosé- und beigefarbenen Reflexionen der Berge an der gegenüberliegenden Küste. Ich spüre, wie mit jedem Blick auf das Meer ein Stückchen Alltagsstress abbröckelt. Man sagt, dass die mineralreiche Luft der Gegend – Sauerstoff, Magnesium und Brom – beruhigend wirken soll, oder vielleicht sind es die Stille und die Pastellfarben der Landschaft. Jedenfalls bewahrheitet sich der Spruch unserer Reiseführerin: „In Tel Aviv bewegt man sich ständig im fünften Gang, hier schaltet man auf den zweiten Gang zurück.“

„Ich spüre, wie mit jedem Blick auf das Meer ein Stückchen Alltagsstress abbröckelt.“

Zum großen Wellnessbereich des Kibbuz, wo sich an Wochenenden und Feiertagen unzählige Kurgäste tummeln, führt jede halbe Stunde ein Shuttle-Bus hinunter. Hier kann man schwimmen, Behandlungen und Schlammbäder nehmen und in die warmen Schwefelwasserbecken tauchen, die von einer Quelle gespeist werden, die dreißig Meter unter dem Toten Meer liegt. Die spezielle Sonneneinstrahlung an diesem tiefsten Punkt der Erde, die Schwefelquellen und das Meerwasser, das eine hohe Konzentration an Mineralien und achtmal so viel Salz enthält wie ein „normales“ Meer, gelten bis heute als Kur für Psoriasis und Arthritis. Dieses Gebäude befand sich ursprünglich unmittelbar an der Küste, doch jetzt gibt es eine Art Liliputbahn, die die Badenden bis zum mittlerweile zwei Kilometer weit entfernten Meer führt.

Ich bevorzuge das neue und viel intimere Synergy-Spa mit dem türkischen Hamam. Es wurde unter anderem mit Hilfe der Entschädigungszahlungen erbaut, die der Staat entrichtet hat, weil die Sinklöcher dem Kibbuz vor einigen Jahren einen Dattelhain und einen Strand zerstört hatten. Schließlich ist es der Staat, der die Auslöser des drastischen Wasserrückgangs genehmigt, nämlich das Abschöpfen des Jordanwassers, bevor es ins Meer gelangt, und die Aktivitäten der Dead Sea Industries. Alle Ideen und Pläne zur Rettung des Binnenmeeres, wie zum Beispiel die Errichtung eines Kanals vom Roten Meer bis zum Toten Meer, scheiterten bisher. Nicht zuletzt, weil die Jordanier, die die Lösung finanziell mittragen müssten, existenziellere Sorgen haben, als dieses Meer zu erhalten.

Ich verscheuche diese Problematik aus meinen Gedanken und begebe mich in den Massageraum und in die Hände von Orit, die mit sicheren Bewegungen beginnt, meinen verspannten Nacken zu bearbeiten. Sie kommt ursprünglich aus der im Norden gelegenen Stadt Haifa und lebt seit eineinhalb Jahren im Kibbuz, wo sie ein Zimmer mietet und viel weniger verdient als früher in ihrer eigenen Klinik. Aber sie ist zufrieden, denn jetzt hat sie endlich Zeit zum Malen, und sie meint: „Es gibt hier ja auch nichts, wofür man das Geld ausgeben müsste.“ Ich finde dennoch etwas und kaufe im Hotelshop die Handcreme aus Myrrhe, Weihrauch und Jojoba aus der kürzlich kreierten eigenen Kosmetiklinie des Kibbuz. Dann geht es zurück in die Hektik von Tel Aviv. Aber noch Tage später kann ich, wenn ich kurz die Augen schließe, die magisch vom Mondlicht beleuchteten Steinformationen, die gelben schweren Blüten des Baobabs und das glitzernde Meer sehen und dabei kurz entspannen.

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