Patisserie Courcelles auf der Ben Yehuda

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In den letzten Jahren zog es immer mehr französische Einwanderer nach Israel. Ihre Präsenz macht sich mitterweile auch in Tel Aviv bemerkbar. Nicht mehr nur zur Ferienzeit. Von Gisela Dachs

Noch jede Einwanderungswelle hat bisher das Land verändert und dem Alltag ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Gerade ist Tel Aviv deutlich französischer geworden. Bisher war das eher auf die Sommermonate beschränkt gewesen, wenn die jüdischen Touristen aus Frankreich zuhauf und tiptop gekleidet den Stadtstrand vereinnahmten. Inzwischen haben sich nicht wenige dauerhaft niedergelassen. 2013 gilt als ein Rekordjahr – 3.120 Einwanderer aus Frankreich überrundeten erstmals die Zahl der amerikanischen Olim. Und war es bisher vor allem die ältere Generation, die es nach der Pensionierung mit einer sicheren Rente nach Israel zog (auch im letzten Jahr waren immerhin noch 536 der Einwanderer über 66), so steigt der Anteil der Jungen.

Die Gründe sind wie so oft bei Migranten ein Gemisch aus Push-and-pull-Faktoren. Eine Bewegung verläuft immer in zwei Richtungen. Man bewegt sich zu etwas hin, das einen anzieht, und will weg von da, wo man ist. Dazu gehören in diesem Fall die Wirtschaftskrise in Frankreich, wachsender Antisemitismus, der Wunsch nach Familienzusammenführung, die Chance auf einen Neuanfang nach der Ausbildung – als Teil der Mehrheit. Viele der Älteren haben in Israel zudem schon lange Verwandte. Diese waren entweder schon vor Jahrzehnten direkt aus Nordafrika eingewandert, während sie selbst damals nach Frankreich gingen; andere ziehen jetzt im Ruhestand ihren Kindern hinterher, die sich im Zuge der Zweiten Intifada durch ein immer feindseligeres gesellschaftliches Klima bedroht gefühlt hatten. Als Wendepunkt gilt der Anschlag im März 2012 auf eine jüdische Schule in Toulouse, bei dem ein Lehrer und drei Kinder von einem Islamisten ermordet wurden. Dies habe die Menschen zwar nicht direkt zur Auswanderung veranlasst, heißt es bei der Jewish Agency, aber zum Nachdenken darüber.

Diejenigen, die tatsächlich gekommen sind, hinterlassen bereits ihre Spuren. In Netanja kann man sich heute bestens mit Französisch durchschlagen, manche nennen es eine Replik von Belleville am Mittelmeer. Das Jerusalemer Viertel Har Choma ist vor allem bei religiösen und jüngeren Neueinwanderern beliebt. In der Hafenstadt Ashdod gab es statt einer klassischen französischen Sylvesterfeier (Réveillon genannt) eine riesige Shiduch-Party, die passenderweise „Réveillons-nous“ genannte wurde. Nach Tel Aviv zieht es die Wohlhabenderen. Hier mehren sich neben den zahlreichen Friseursalons und Immobilienbüros – wo man französisch spricht, wie überall in den Auslagen steht – nun auch die Patisserien, Wein- und Käsehandlungen. Bei Courcelles auf der Ben Jehuda gibt es „Éclairs au chocolat“ und „Baguettes“, die zwar nicht genau so wie in Frankreich schmecken, aber trotzdem genießbar sind.

Am Beispiel dieser Einwanderer stellt sich die Frage nach Integration im 21. Jahrhundert – und in Israel – neu.

Dafür wird das andere Klima verantwortlich gemacht, was man gerne glauben darf. Zwei weitere Filialen wurden bereits eröffnet. In ihrem Stammcafé gibt es nicht nur bessere Croissants (mit Butter und nicht Margarine, wie die Besitzerin von Courcelles unterstreicht), sondern auch eine ganze Reihe verschiedener französischer „Bulletins“. Das sind Magazine mit religiösen Kommentaren und Nachrichten mit einer klaren rechten politischen Färbung. Auf der französischsprachigen Website Tel-Avivre.com gibt es nützliche Informationen für Beruf und Alltag.

Die neue Welle aus Frankreich ist schon Stoff für Sozialwissenschaftler. Am Beispiel dieser Einwanderer stellt sich für sie die Frage nach Integration im 21. Jahrhundert – und in Israel – neu. Denn wollte man früher unbedingt in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen, oder gab es zumindest diesen Anspruch, so ist die Rede heute vielmehr von „multiplen kulturellen Zugehörigkeiten“. Niemand muss also sein altes Gepäck mehr leise abstellen. Und so gibt es neuerdings auch tief religiöse Bar-Mitzwa-Feiern mit nordafrikanischem Flair, auf denen fast ausschließlich arabische Musik gespielt wird, was sich frühere Einwanderer viel weniger getraut hätten. Franzosen mit sephardischen Wurzeln aber sind anders sozialisiert – und haben keinerlei Probleme mit diesem Erbe, das in Israel seit jeher mit dem Feind assoziiert wird. Sie beanspruchen es jedenfalls viel selbstbewusster als alteingesessene Israelis.

Solche kulturellen Importe schaffen neue Nischen, die von der Technologie unterstützt werden. Das Internet macht es möglich, hier und dort zu sein. So kann man von Tel Aviv aus genauso gut wie in Paris einem Beratungsjob am Telefon in französischer Sprache nachgehen, bei denen der Kunde keine Ahung hat, wo sich der Gesprächspartner gerade befindet. Einwanderer von heute können auch in nie dagewesener Weise einfach ihre alten Mediengewohnheiten beibehalten. Satellitenschüsseln, Kabelfernsehen und Internet machen es möglich, nahe dran zu bleiben am Geschehen im Herkunftsland. Konkret bedeutet das für viele „Franzosen“ hier, dass sie sich weiterhin täglich über die Israel-Berichterstattung im französischen Staatsfernsehen grün ärgen.

So gibt es neuerdings auch tief religiöse Bar-Mitzwa-Feiern mit nordafrikanischem Flair, auf denen fast ausschließlich arabische Musik gespielt wird.

Marc ist 1996 aus Lyon eingewandert und lebt heute als Lehrer in Jerusalem. Er erzählt, dass seine Eltern in Netanja wie viele andere gar kein israelisches Fernsehen sähen und mit anderen Einwanderern eine eigene Gesellschaft aufbauten, „kein Gegenentwurf, aber ein bisschen abseits“. Er hält die jüngste Welle für ein komplexes Konstrukt, weil man ja durchaus Israeli werden wolle, super national eingestellt sei, aber zugleich spezifisch französisch bleiben möchte. Eine Studie der französischen Botschaft hat gerade versucht, ein Bild dieser Gruppe zu zeichnen. Andere haben schon dazu ein Buch veröffentlicht. In Sociologie et sociolinguistique des francophonies israéliennes der Tel Aviver Sozialwissenschaftler Eliezer Ben-Rafael und Miriam Ben-Rafael wird sie in einer interessanten Umkehrung des ursprünglichen Diaspora-Begriffs als „französische Diaspora in Israel“ bezeichnet.

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