Prag 1968 – jüdische Narrative

Die Zeitzeugen Peter Brod und Tomas Kraus erzählen Erlebtes und Historisches zum gescheiterten Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“

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Jüdische Perspektiven. Tomas Kraus und Peter Brod erlebten den Prager Frühling hautnah. © European Jewish Fund; privat; picturedesk.com

Für mich, als leicht beeinflussbaren Jungen von 16 Jahren, war das eine sehr aufregende Zeit: Die Zensur in den Medien wurde aufgehoben, es wurde plötzlich über die Verbrechen der kommunistischen Welt und über das Geschehen im Westen ohne ideologische Einfärbung berichtet“, erinnert sich Peter Brod, Historiker und Journalist, dessen Leben von den Ereignissen rund um den Prager Frühling 1968 radikal verändert wurde. Die plötzliche Versammlungs- und Reisefreiheit, spontane Demonstrationen, Feiern zum 1. Mai, die sich dramatisch von den vorangegangen unterschieden, all das begeisterte den geschichtsinteressierten Burschen, der zum ersten Mal konkrete Anzeichen einer greifbar nahen freien Gesellschaft verspürte.

Doch seine deutschsprachige jüdische Familie teilte seine Euphorie nicht. „Die Kassandra-Rufe meiner Eltern waren laut, denn sie fürchteten, dass die Aufbruchstimmung enden würde wie in Ungarn 1956. Ich erinnere mich sehr gut an einen Familienrat im Mai 1968: Wir saßen um unseren runden Tisch im Wohnzimmer und diskutierten heftig über die Entwicklungen“, erzählt Brod. „Auch mein Cousin Toman Brod, der als linientreuer Kommunist galt und eine beachtliche wissenschaftliche Karriere geschafft hatte, war dabei. Meine Eltern waren überzeugt, die Russen würden einmarschieren, aber ich hielt dagegen: ‚Das geht doch nicht. Was wird die Weltöffentlichkeit sagen?‘ Darauf rief mir mein Cousin zu: ‚Warte nur Peter, die Bolschewiki werden es euch noch zeigen!‘“

Peters Eltern nutzten im Sommer 1969 gerade noch rechtzeitig die Wirren der Umbruchszeit und suchten um legale Ausreise an, so konnten sie die Tschechoslowakei Richtung Deutschland verlassen. „Wir kamen relativ unversehrt davon, im Unterschied zu den rund 150.000 Tschechen und Slowaken, die in Nacht und Nebel Richtung Westen geflohen sind“, weiß Brod, der in München nach zwei Jahren mit der Matura das Gymnasium abschloss.

Sein Vater, der die Schoah in England überlebte, hatte noch bis 1948 als Jurist für die jüdische Gemeinde in Prag gearbeitet. Doch nach der Machtübernahme durch die Kommunisten wurde er zum Hilfsarbeiter degradiert, in der Folge machte er sich als Fremdenführer selbstständig. Als ethnisch deutsche Rückwanderer genossen die Brods ab 1969 in Bayern gewisse soziale Leistungen und konnten Fuß fassen. „Mein Vater, der noch als Österreicher geboren wurde, starb vor der Wende 1989 in seinem geliebten Bad Ischl. Meine Mutter erlebte zwar das historische Jahr, blieb aber in München.“

Nur Peter Brod kehrte bereits 1989 nach Prag zurück. „Ich habe meinen Aufenthalt in Deutschland immer als Exil betrachtet, für mich war das keine kulturelle Heimkehr wie für meine Eltern. Ich war zu sehr Tscheche und Jude, um mich in Deutschland heimisch zu fühlen.“ Dennoch blieb Deutschland und vor allem die Sprache das Fundament seiner eindrucksvollen Karriere: Nach seinen Studien der Politikwissenschaft und der osteuropäischen Geschichte in München, London und Cambridge, Mass. (USA), lebte er von 1980 bis 1987 in London, wo er als Redakteur für die BBC arbeitete. Von 1990 bis 1992 war er in Prag für Radio Freies Europa tätig, und nach 1990 fungierte Brod auch als erster ständiger Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

„Ich war zu sehr Tscheche und Jude, um mich in Deutschland
heimisch zu fühlen.“
Peter Brod

„1993 ging ich in die Münchner Nachrichtenredaktion der Süddeutschen, denn ich wollte den Mainstreamjournalismus hautnah erleben“, lacht Brod über sein dreijähriges Experiment. Im Jahr 2000 kehrte er als Büroleiter der BBC wieder nach Prag zurück. Hat er das inzwischen bereut? „Nein, es passiert hier viel Aufregendes, und das hängt auch mit meinen zwei wichtigsten Interessengebieten zusammen: Das sind die Geschichte der Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Tschechoslowakei wie auch die deutsch-tschechische und österreichisch-tschechische Geschichte der Juden.“

Wie ist die heutige Wahrnehmung der Ereignisse von 1968 in der tschechischen Bevölkerung? Brod konstatiert, dass für die junge Generation die Zeitspanne von vor 50 Jahren sehr weit zurückliegt und Interesse meist nur in studentischen Kreisen besteht. „Die tschechische Geschichte ist ambivalent und kontrovers. Auch zu 1968 gibt es nach wie vor verschiedene Narrative. Das eine besagt, dass sich die Nation aufgebäumt hat und sich ihrer wahren demokratischen Traditionen bewusst wurde. Gegen diese These spricht, dass sich die damalige Bevölkerung dennoch hinter die kommunistische Führung stellte, vielleicht nur aus taktischen Gründen, weil sie wussten, dass sie von feindlichen Regimen umstellt waren. Denn außer Jugoslawien und Rumänien kamen keine Unterstützer in Frage.“

Das zweite Narrativ erzählt davon, dass das „gesamte Lüfterl“ nur eine Auseinandersetzung innerhalb der CSSR-kommunistischen Partei war, wo sich die stalinistische Fraktion und die Reformgruppe gegenseitig bekämpften. Die Sowjetverbündeten mussten den Kampf gewinnen, weil der Kommunismus nicht reformierbar ist und daher dieser Versuch von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. „Eigentlich haben dadurch beide Fraktionen das ganze Land ins Unglück gestürzt.“

Heute bemühe man sich laut Historiker Brod, vieles durch wissenschaftliche Konferenzen, Ausstellungen und Debatten in den Medien zu differenzieren. Er selbst moderiert historische Sendungen im öffentlich-rechtlichen tschechischen Fernsehen.

Die jüdischen Spuren von 1968. „Vor zwei Wochen waren die die Kinder der Maiselova hier zu Besuch“, freut sich Tomas Kraus, Präsident der jüdischen Gemeinde Prag. Doch wer hier an eine Kindergruppe denkt, liegt falsch. Es handelt sich eindeutig eher um eine junggebliebene Gruppe: „Das sind jüdische Menschen, die 1968 in der Gemeinde aktiv waren und sich daher nach dem jüdischen Rathaus in der Maiselova-Straße benannt haben.“ Heute sind sie in aller Welt verstreut. Sie kamen zu diesem nostalgischen Treffen aus den USA, aus Israel und aus vielen europäischen Ländern.

© European Jewish Fund; privat; picturedesk.com

Wer Tomas Kraus, Rechtsanwalt und Vorstandsmitglied der Föderation der jüdischen Gemeinden in Tschechien, nach dem Gedenken an 1968 fragt, erhält eine umfassende Geschichtsstunde. „Mit dem Achter in der Jahreszahl begehen wir heuer zahlreiche Jubiläen: 70 Jahre Israel feiern wir ebenso das ganze Jahr hindurch wie die Gründung der tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober 1918.“ Mit dem Philosophen, Soziologen und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Tomas G. Masaryk, gibt es auch Berührungspunkte zu jüdischen Persönlichkeiten. Bereits 1901 hatte Masaryk bei Kaiser Franz Josef bewirkt, dass das Todesurteil über den jüdischen Schuster Leopold Hilsner, der fälschlicherweise des Ritualmordes beschuldigt wurde, in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wurde. Als dann Masaryk 1918 die Hilfe der Alliierten suchte, halfen ihm seine jüdischen Freunde in den USA. „Nur dank der Intervention des aus Böhmen stammenden Obersten Richters, Louis Brandeis, bekam Masaryk einen Termin bei Präsident Woodrow Wilson“, erzählt Kraus, der seit 1991 der Prager jüdischen Gemeinde vorsteht. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten auf dem Gebiet von Böhmen und Mähren ca. 120.000 Juden. Von den etwa zehn Prozent Überlebenden sowie den sich nach dem Krieg neu angesiedelten Juden wanderten Ende der 40er-Jahre und nach dem Prager Frühling 1968 jeweils eine große Anzahl aus. Mit Beginn der Arbeit der Föderation der jüdischen Gemeinden 1990 gab es in den zehn jüdischen Gemeinden in Tschechien etwa 3.000 Juden, in Prag selbst an die 1.600, was heute nicht anders ist. Schätzungsweise gibt es außer den registrierten Mitgliedern in den Gemeinden noch ungefähr 15.000 bis 20.000 Personen, die dem jüdischen Glauben angehören.

Auch während des kurzen politischen Tauwetters spielten jüdische Persönlichkeiten eine wesentliche Rolle. Das trug dazu bei, dass das sowjetische Zentralkomitee eine „jüdische Konspiration“ hinter dem Prager Frühling vermutete. An drei Intellektuellen konnten sie unter anderem ihren Antisemitismus ausleben: Ota Šik war ein tschechoslowakisch-schweizerischer Maler und Wirtschaftswissenschaftler, der als Schöpfer der Wirtschaftsreformen des Prager Frühlings, genannt Der dritte Weg, berühmt wurde. Auch der Germanist und Diplomat Eduard Goldstücker zählte zu den geistigen Vorbereitern des kurze Zeit gelockerten Regimes.

„Zum wahren Helden sowohl der jüdischen als auch der allgemeinen Öffentlichkeit wurde Frantisek Kriegel, der als Vorsitzender der Nationalen Front eine führende Rolle im Prager Frühling einnahm“, erzählt Kraus. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts wurde er mit der gesamten Führungsriege unter der Leitung von Alexander Dubček nach Moskau gebracht. Die dort vorgelegte Erklärung, die eine Distanzierung von der „konterrevolutionären“ Entwicklung enthielt, wurde von allen außer Kriegel unterzeichnet. „Alle anderen so genannten Helden hatten kapituliert, nur der jüdische Professor nicht“, freut sich Tomas Kraus noch heute. Nach Kriegels Rückkehr war seine Karriere zu Ende, er wurde all seiner Funktionen enthoben. Erst als Freund von Vaclav Havel und als Mitbegründer der Charta 77 erschien er wieder auf der politischen Bühne.


Prager Frühling

Die Tschechoslowakei galt als ein Musterschüler des Ostblockes. Die Tschechen und Slowaken konnten sich im Zweiten Weltkrieg weitgehend selbst befreien, die kommunistische Partei genoss wegen ihres Widerstandes während der Besatzungszeit Vertrauen bei einem Großteil der Bevölkerung. Dies erleichterte ihr 1948 den Februarumsturz und die Festigung ihrer Macht. Die politische und wirtschaftliche Krise im Land spitzte sich erst in den 1960er-Jahren zu: Eine halbherzige Entstalinisierung, ungelöste Probleme zwischen Tschechen und Slowaken und der Widerstand von Schriftstellern und Intellektuellen kratzten an der Macht der Altkommunisten. Mit der Duldung Moskaus einigten sich Konservative und Reformer auf einen neuen Mann an der Spitze der Partei. Der Slowake Alexander Dubček sollte das Land aus der Krise führen. Dubček, der als unentschlossener und farbloser Funktionär galt, sollte zur Symbolfigur des Prager Frühlings werden.

Dubček setzte sich für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ein. Dazu gehörten die Garantie von Grundrechten wie Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit und die Zulassung anderer Parteien. Die Herrschaft der kommunistischen Partei sollte jedoch unumstritten bleiben. Die Sowjetunion beobachtete diese Entwicklungen misstrauisch, sie befürchtete, dass die Reformen in der Tschechoslowakei zur Gefahr für die kommunistischen Regime in anderen Ostblockstaaten werden könnten. Im „Warschauer Brief“ an Dubček forderten die Sowjetunion, Ungarn, Bulgarien, Polen und DDR einen klaren Kurswechsel.

Unterdessen hatte sich der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew schon für einen militärischen Eingriff entschieden: Mit der Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten am 21. August 1968 wurde der Prager Frühling brutal niedergeschlagen. Dubček wurde verhaftet und mit anderen Exponenten nach Moskau verschleppt, dort unterzeichnete er mit dem „Moskauer Protokoll“ die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die Einführung politischer Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild. Das blutige Ende des Prager Frühlings wurde zum Trauma einer ganzen Generation.

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