Rom. Die Juden. Der Papst.

„Der längste Winter“: eine Studie des römischen Historikers Andrea Riccardi über die Geschichte der Juden in Rom zwischen Herbst 1943 und Sommer 1944.

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Rom 1943. Im Zuge der großen Razzia am 18. Oktober wurden 4.000 Juden aus Rom deportiert.© bpk

Eigentlich müsste man das Buch dem Verlag retournieren. Denn der Untertitel ist falsch. Statt „Die vergessene Geschichte der Juden im besetzten Rom“ – und gemeint ist das von den Deutschen besetzte Rom zwischen dem 8. September 1943 und dem 5. Juni 1944 – müsste es eigentlich heißen: „Wie die katholische Kirche im von den Nazis besetzten Rom zahllose Flüchtlinge rettete, darunter auch mehrere Tausend Juden.“
Der römische Historiker Andrea Riccardi, der an der Università degli Studi Roma Tre lehrt, steht einer karitativen katholischen Laienorganisation vor. Diese Orientierung bestimmt nicht nur seine Publikationsliste, in der sich unter anderem eine Biografie des polnischen Papstes Wojtyła findet, sondern auch und erst recht diese Monografie. Darin schildert Riccardi den „längsten Winter“, die Zeit vom September 1943 bis zur Befreiung der Stadt durch die Alliierten Anfang Juni 1944.
Natürlich behandelt er chronologisch die großen Zäsuren, die Machtübernahme der deutschen Nazis in Italien Anfang September, die große Razzia am 18. Oktober, in dessen Zuge 4.000 Juden aus Rom deportiert und in Auschwitz ermordet wurden, das Abtauchen vieler Tausend Juden, die zunehmend aggressivere Verfolgung durch faschistische Schlägerhilfstruppen, die geschmeidigen Manöver des deutschen Botschafters Ernst von Weizsäcker, Vater des Physikers und Philosophen Carl Friedrich und des westdeutschen Bundespräsidenten Ernst, das Realisieren der deutschen Generäle und der Gestapo im späten Frühjahr 1944, dass der Krieg in Italien verloren war und gute Bande zur katholischen Kirche überlebenswichtig sein könnten.

Eine Geschichte römischer Kleriker, Mönche und Ordensschwestern, die Flüchtlinge und Verfolgte versteckten und zu überleben halfen.

Viel zu oft verliert sich Riccardi in kleinteiligen Schilderungen, bei denen so manche Person nur einen Auftritt hat und dann wieder obskur verschwindet. Die Folge dieser Verzettelung ist, dass Riccardi nicht liefert, was er in Aussicht stellt. Es ist kein Panorama der römischen oder nach Rom geflohenen Juden in der Tiberstadt, vielmehr eine Geschichte römischer Kleriker, Mönche und Ordensschwestern, die Flüchtlinge und Verfolgte versteckten und zu überleben halfen. Noch stärker ist es eine Studie über die Diplomatie der Vatikanstadt, damals die einzige selbstständige Enklave im von den Nazis besetzten Europa, und des Papstes Pius XII., der vor 55 Jahren im Zentrum von Hochhuths Skandalstück Der Stellvertreter stand.
„Durch den Krieg ist alles verloren, doch mit dem Frieden ist nichts verloren.“ Das war der Leitsatz des im Jahr 1932 im Alter von 55 Jahren zum Pontifex maximus gewählten Römers Eugenio Pacelli, der als Pius XII. amtierte. Schwieg er, der sich im „längsten Winter“ absichtlich komplett von der Öffentlichkeit zurückzog, hartnäckig und hartleibig, wie lange behauptet? Dass das falsch ist, darüber sind sich die Historiker einig. Seine Strategie: eine Wiegediplomatie.

Andrea Riccardi:
Der längste Winter. Die
vergessene Geschichte der
Juden im besetzten Rom.
Aus dem Italienischen von Elisabeth-Marie Richter.
Theiss Verlag 2017, 464 S.,
€ 30,80 (A)/29,95 (D)

Dass nicht wenige Zusammenhänge inzwischen schärfer ausgeleuchtet worden sind, liegt auf der Hand, ist doch Riccardis Buch in Italien bereits 2008 erschienen. Auffällig ist, dass einige Titel, von Pierre Blet, Giovanni Miccoli oder Michael Phayer, in seiner Bibliografie nicht aufscheinen. So ist Soldier of Christ des Kanadiers Robert Ventresca von 2013 bezüglich Pius’ intellektuellem wie spirituellem Hintergrund erhellender. Verglichen damit ist Riccardis Monografie nicht nur in Teilen apologetisch. Was besonders ins Auge fällt, ist neben mangelhafter Bündigkeit und fehlender Akzentuierung das Unvermögen, die verworrene bis schwülstige Rhetorik des Heiligen Stuhles kühl zu analysieren. Dieser Papst war mehrere Jahrzehnte durch die hohe diplomatische Schule des Vatikans gegangen. Deren Duktus hatte über die Jahrhunderte Ausdrucksformen zwischen blumiger Süßlichkeit und verwaschenem Nichtssagen herausgebildet. So lobte Pius XII. am 23. Februar 1944, und im Halbjahr zuvor war das Terror- und Verfolgungsregime in Rom immer unerbittlicher geworden, die Not drängender, der Hunger immer größer, seine Mitkleriker so: „Das vergangene Jahr sah euch noch enger mit uns im Werk der Barmherzigkeit verbunden, durch das wir versuchten zu tun, was innerhalb unserer – leider allzu begrenzten – Möglichkeiten liegt, um das Elend, das zusammen mit den Armen nach Rom kommt, zu lindern.“

Erst ganz am Schluss erwähnt Riccardi, was der Vatikanstadt in diesem Winter 1943 auf 1944 eigentlich am Herzen lag: Rom vor dem Krieg zu verschonen und zu vermeiden, dass die Bevölkerung in den Krieg verwickelt werde. Dagegen setzte das Oberhaupt der Katholiken, 1867 geboren, eine althergebrachte Erhabenheit, die Mitte des 20. Jahrhunderts heillos antiquiert anmuten musste, allen, nur ihm nicht. Wie ein deutscher Historiker vor einigen Jahren schrieb: Hätte Pius XII. statt winziger diplomatischer Hebelzüge und diplomatischer Trippelschritte ein welterschütterndes Wort gesprochen, eines ohne Rücksichten, eines, das Mauern hätte einstürzen lassen, er wäre ein großer Papst geworden.
Dieses Buch präsentiert, begraben unter vielen lebendigen Details und Zeitzeugenerinnerungen, wenig Neues. Schon 2008, dem Jahr, in dem Riccardis Buch erschien, schrieb auf weniger Raum der Deutsche Michael Hesemann erstaunlich Ähnliches.

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