Russland und der Westen sind wie Pommes mit Kaviar

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Was Wladimir Putin derzeit veranstaltet ist nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Russland war schon immer unberechenbar, mit einem Hang zum Größenwahn. Putin ist nicht irre, er ist Russe. Das sollte dem Westen zu denken geben. Von Oliver Jeges  

Wenn man in den vergangenen Monaten den Diskussionen über Russland lauschte, egal ob Putin-Versteher oder nicht, hatte man oft das Gefühl, es handle sich bei dem Riesenreich im Osten um einen guten alten Kumpel, mit dem es nur gerade etwas schlecht laufe. Beim Besuch der deutschen Bundeskanzlerin in Moskau Mitte Mai nannte Wladimir Putin die Deutschen einen „Partner und Freund“. Und Anfang des Jahres sagte Angela Merkel, sie wünsche sich, dass „Russland wieder unser Partner wird“. Was nichts anderes bedeutet als: Ja, im Augenblick kriselt es ein wenig, aber im Grunde haben wir uns sehr, sehr lieb.

Russland und der Westen, das ist wie eine Ehe zwischen einem Hedgefonds-Manager und einer Einzelhandelskauffrau.

Das ist der vorherrschende Tenor im Russland-Diskurs, egal ob er von einem Frank-Walter Steinmeier, einem Gregor Gysi, einem Matthias Platzeck oder einem Heinz Fischer angestimmt wird. Differenzen im Meinungsbild gibt es nur gegenüber Putin und dem aktuellen Kremlregime. Im Allgemeinen dagegen gilt: Russland und Europa gehören zusammen wie Waldorf und Statler, Homer und Marge, Conchita und ihr Bart.

Doch während man sich im Westen immer noch Gedanken darüber macht, warum es nicht gelungen ist, Russland in den Westen zu integrieren, warum Moskau einen intellektuellen Rollback vollzieht und sich ganz bewusst von dem Ziel verabschiedet, irgendwann in der Moderne anzukommen, ist man in Russland schon viel weiter. Neunzig Prozent der Russen stehen laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts FOM hinter ihrem Präsidenten, zwei Drittel sehen im Westen einen Aggressor. Außerdem geht aus den Umfragen hervor, dass der Westen bei den Russen derzeit so unbeliebt ist wie noch nie. Ein Ergebnis, das einerseits auf die funktionierende Propagandamaschinerie des Kremls zurückzuführen ist, andererseits aber auch eine tief verankerte Stimmung gegenüber den europäischen „Partnern“ zeitigt.

Russland ist kulturell weder asiatisch noch europäisch. Es ist nicht buddhistisch-konfuzianistisch geprägt und auch nicht griechisch-römisch. Das heutige Russland beruft sich nicht auf (für Europa einschneidende) historische Wendepunkte wie die französische Revolution, auf liberale Denker wie Kant, Hobbes und Locke oder auf philosophische Ideen, die man im Westen ganz allgemein unter dem schwammigen Begriff „Moderne“ subsumiert. In Russland erfahren dagegen zurzeit gerade konservative bis reaktionäre, insbesondere aber antiwestliche Denker ein unrühmliches Revival: Iljin, Danilewski, Berdjajew, Solow­jow. Intellektuelle, die stets vor einem „Werteverfall“, vor Hedonismus und Individualität gewarnt hatten. Also alles, was gemeinhin mit dem Westen assoziiert wird.

Überhaupt bezieht sich das neue Muskelrussland unter Wladimir Putin nicht auf faktische, weltliche oder rationale Traditionen. Stattdessen werden urslawische Mythen bedient, wie etwa jener um die Kiewer Rus. In Kiew, so die Argumentation der Neurussen und Putin-Deuter, liege das spirituelle und sakrale Zentrum Russlands. Auch die Krim betrachtet der Kreml als russisches Heiligtum. Das ist Sprengstoff pur. Wann immer Orte als heilig bezeichnet wurden, entstanden daraus Konflikte. So erinnern auch die Worte Putins über die Krim („In den Herzen und in den Köpfen der Menschen war und bleibt die Krim ein unveräußerlicher Teil Russlands“) an die von Slobodan Milosevic über den Kosovo („Der Kosovo ist das Herz Serbiens“).

Russland hat mit Europa in etwa so viel zu tun wie der Islam mit dem Judentum: Es gibt Gemeinsamkeiten, aber sie reichen nicht aus für eine dauerhafte Partnerschaft. Friedliche Koexistenz ist das Äußerste, wozu diese beiden Machtblöcke fähig sind. Die Jelzin-Jahre, in denen Russland mit sich selbst beschäftigt war und keine Kraftreserven für außen- oder geopolitische Abenteuer zur Verfügung hatte, bleiben wohl eine Ausnahme.
Erst durch die Annexion der Krim scheint vielen im Westen aufgegangen zu sein, dass Russland kein verlässlicher Partner ist. Dass Russland nicht auf dem Weg in den Werteliberalismus unterwegs ist. Dass Russland und Europa keine gemeinsamen Ideale teilen. Dass Wladimir Putin kein vertrauenswürdiger Zeitgenosse ist. Dafür gibt es genügend Beispiele in der jüngeren Vergangenheit: der Umgang mit dem Untergang der „Kursk“, der Mord an Anna Politkowskaja, der Krieg gegen Georgien, die Militärparaden am Roten Platz, die Inhaftierung von Pussy-Riot-Frauen in einem Neo-Gulag, Putins Partnerschaft mit dem Ayatollah-Regime im Iran, dem Assad-Clan in Syrien und der Kim-Familie in Nordkorea. Die russischen Gesetze gegen ausländische NGOs im eigenen Lande, die Gesetze gegen Homosexuelle, die Verschärfung der Mediengesetze, die zu einer Ausschaltung der freien Presse führen. Putin kennt keine Grenzen: keine juristischen, keine geografischen, keine moralischen. Er nimmt sich, wovon er glaubt, es stünde ihm und seinem Volk zu.

Das alles ist und war Russland. Eine lupenreine Diktatur, wie Kasachstan oder Weißrussland, nur dass sie im Gegensatz zu diesen im Westen wie eine vorbildliche Demokratie hofiert wird. Russland befindet sich nicht auf dem Weg zu einer liberalen Demokratie, zu Meinungsvielfalt, zu Pluralismus, wie man das im gutgläubigen Westen diversen Schwellenländern in Francis-Fukuyama-Manier gerne unterstellt. Moskau will nicht nach vorne. Es will Lenkung der Staatsorgane, Lenkung der Wirtschaft, Lenkung der Medien.

In seinem aktuellen Buch Putinismus – Wohin treibt Russland? schreibt der große Doyen der politischen Publizistik Walter Laqueur: „Putins Regime verdankt sein Überleben und seinen Erfolg einem einzigen Faktor – dem Erdöl- und Erdgasexport. Dessen Einnahmen decken rund die Hälfte des russischen Staatshaushalts.“ Aus genau diesem Grund existiert auch eine von Politikern schöngeredete „Beziehung“ zum „Partner“ Russland. Aber Russland ist kein Partner. Es ist ein Gegner, mit dem man zugegebenermaßen gute Geschäfte abwickeln kann. Ideell gibt es keine Überschneidungen. Russland und der Westen – das ist wie Pommes mit Kaviar.

Ein russisches Sprichwort lautet: „Einfalt ist schlimmer als Gaunerei.“ Was in reale Begebenheiten übersetzt so aussieht: Die EU wirbt um die Ukraine, Russland droht der Ukraine. Die EU stellt der Ukraine ein Assoziierungsabkommen in Aussicht, Russland annektiert die Krim. Die EU unterstützt die Ukraine in Zeiten der Krise mit mehreren Milliarden, Russland reagiert mit Aufrüstung und Brachialrhetorik. Während im Westen, von Angela Merkel bis Barack Obama, alle versichern, keinen Krieg zu wollen, und auf Tauwetter hoffen, erinnert Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen an das Atombomben-Arsenal des Landes, und dass man durchaus bereit sei, diese einzusetzen.

Russland und der Westen, das ist wie eine Ehe zwischen einem Hedgefonds-Manager und einer Einzelhandelskauffrau. Man kann sich diese Beziehung zwar eine Zeit lang schönsaufen. Auf Dauer jedoch wird diese Liaison mangels Ähnlichkeiten in die Brüche gehen. Im Westen sollte man langsam, aber sicher damit beginnen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu unterscheiden. Denn das, was Russland und der Westen miteinander haben, ist weder Liebe, eine Affäre oder Freundschaft, sondern nicht mehr als eine nützliche Nachbarschaft. Russland braucht Geld, Europa braucht Öl und Gas. Auf diesen Deal sollte man sich in den zukünftigen „Beziehungen“ beschränken. ◗

Bild: © apa picturedesk

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