Schattenseiten der Geschichte

Marie-Theres Arnbom legt ein beeindruckendes Zeugnis über den Kahlschlag im österreichischen Kulturleben ab 1938 vor.

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László Halász startete als brillanter Pianist und wurde später erster Direktor der New York City Opera. © Volksoper, Röhnert/Ullstein Bild, picturedesk

Am 16. Februar 1938 findet die Uraufführung der Revueoperette Gruß und Kuß aus der Wachau an der Wiener Volksoper statt. Der Titel deutet kaum auf eine jüdische Anmutung, geschweige denn Handschrift hin. Und trotzdem steht dieses Werk am Vorabend des „Anschlusses“ exemplarisch für eine Vielzahl von jüdischen Künstlern, die noch eine Heile-Welt-Erzählung auf der Bühne suggerieren, während sie bereits auf der Flucht vor ihrer Verfolgung und Ermordung sind.

Die Geschichte der drei fröhlichen Mädel auf der Suche nach geeigneten Ehemännern in der Wachau stammt von Hugo Wiener und Kurt Breuer – die beiden Autoren fliehen nach Bogotá bzw. New York, wo sie sich in Exilkabaretts über Wasser halten. Die Gesangstexte stammen von Fritz Löhner-Beda, der 1909 Gründungsmitglied und erster Präsident des Wiener Sportvereins Hakoah war und ein grauenhaftes Ende fand: Nach Zwangsarbeit in den KZs Dachau und Buchenwald wurde er in Auschwitz III Monowitz erschlagen.

Der erfolgreiche Regisseur der Operette, Kurt Hesky, und sein Ballettmeister Harry Neufeld werden sich später an ihrem Zufluchtsort Brasilien wiederfinden. „Man sieht Bilder, die Karl Josefovics anheimelnd und heiter gemalt hat“, schreibt die Wiener Kritik über den Bühnenbildner, der im Juni 1938 noch rechtzeitig nach London flieht und ab 1951 am Habimah-Theater in Tel Aviv Karriere macht. Die Musik des nicht-jüdischen Komponisten Jara Benes darf nicht mehr gespielt werden, weil er mit Juden zusammengearbeitet hat. Die Rezension im Neuen Wiener Tagblatt stellt die Stars der Operettenuraufführung vor: „Die aparte und elegante Hulda Gerin heiratet den haltungsvollen Herrn Flemming.“ Hinter dem Künstlernamen der Sopranistin verbirgt sich Hilde Güden, die, protegiert von Clemens Krauss, noch bis 1942 in Wien und München singen kann. Als es auch für sie zu gefährlich wird, muss sie nach Italien fliehen. Ihrem Kollegen Victor Flemming hilft die Flucht nach Luxemburg nichts, er wird zuerst in das KZ Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

»Künstler jüdischer Herkunft,
Jazz-Operette und pointiert-humorvolle Texte voller Witz und Verve – dies alles
widerspricht der Nazi-Ideologie komplett.«
Marie-Theres Arnbom

Diese Abschiedsstunden der jüdischen Künstlerinnen und Künstler hat die Historikerin Marie-Theres Arnbom im Auftrag der Wiener Volksoper zu deren 120-Jahr-Jubiläum akribisch recherchiert und empathisch dokumentiert: „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt“ Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938 heißt der im Amalthea Verlag erschienene Band. Höchst einfühlsam, oft selbst erschüttert angesichts der Schicksale, die sie erforscht hat, schildert die Autorin sowohl die brutal abgebrochenen wie auch unter schwierigen Umständen von Erfolg gekrönten neuen Karrieren jüdischer Menschen. „Diese Zitate aus der Rezension im Neuen Wiener Tagblatt vom 19. Februar 1938 machen exemplarisch den Kahlschlag deutlich, dem die Volksoper genau wie das gesamte österreichische Kulturleben ausgesetzt war“, erzählt Arnbom. „Künstlerinnen und Künstler jüdischer Herkunft, Jazz-Operette und pointiert-humorvolle Texte voller Witz und Verve – dies alles widerspricht der Nazi-Ideologie komplett und wird mit großer Vehemenz und Nachhaltigkeit ausgemerzt.“

MarieTheres Arnbom:
»Ihre Dienste werden
nicht mehr benötigt.«
Aus der Volksoper
vertrieben – Künstler-
schicksale 1938.
Amalthea 2018,
208 S., € 25

Der längst fällige ungeschminkte Blick in die teils unrühmliche Geschichte des Hauses war das große Anliegen des Direktors Robert Meyer und seines Chefdramaturgen Christoph Wagner-Trenkwitz. Gab es in der Volksoper eigene Bestände aus 1938, auf die Arnbom in ihrer Recherche zurückgreifen konnte? „Nein, denn die Volksoper bestand bis 1938 aus mehreren privaten Vereinen, die von den Nazis aufgelöst wurden, um das Haus der Stadt Wien zu übertragen“, erzählt die Gestalterin zahlreicher kulturgeschichtlicher Ausstellungen für österreichische Museen. „Im Wiener Stadt- und Landesarchiv befinden sich rudimentäre Bestände dieser Vereine, die jedoch in keiner Weise das Jahr 1938 betreffen. Dies hat die Recherche auch besonders schwierig gestaltet.“

In übersichtlichen und thematisch logisch gegliederten Kapiteln skizziert Arnbom aus bisher unbekannten Archivbeständen, Lebenserinnerungen und Gesprächen mit Nachkommen von Sydney in Australien bis Greensboro in North Carolina den Lebensweg der Vertriebenen. „Die meisten sind vergessen. Ihnen soll ihre Geschichte zurückgegeben werden“, betont die Verfasserin von Damals war Heimat. Die Welt des Wiener jüdischen Großbürgertums (Amalthea Verlag 2014).

Welches der Schicksal hat die Rechercheurin am meisten berührt? „Das ist schwierig zu beantworten. Wenn man sich mit 30 Lebensgeschichten so intensiv beschäftigt, wachsen einem alle diese unterschiedlichen Persönlichkeiten sehr ans Herz. Trotzdem gibt es natürlich unterschiedliche emotionale Beziehungen“, so die Autorin. „Das Schicksal der Sängerin Ada Hecht, die nicht mehr aus Wien herausgekommen ist und ihrem Sohn in New York unzählige Briefe schickte, zählt zu den tragischsten Geschichten dieses Buches. Allein die Veränderung der Handschrift zeigt die wachsende Panik, ja Todesangst. Aus einer sehr selbstbewussten großen Schrift werden immer kleinere, unsichere Buchstaben – ein schreckliches Zeugnis der Zustände in Wien.“

Ada Hecht studierte bei Gustav Geiringer, dem Vater der Schauspielerin Adrienne Gessner, und wurde 1925 an die Volksoper engagiert, wo sie sich vom Zigeunerbaron bis Lohengrin die begehrtesten Hauptrollen ersang. Im August 1938 gelingt es der beliebten Sängerin noch, ihren einzigen Sohn Manfred in die USA einzuschiffen. Ada Hecht und ihr Mann werden im Herbst 1942 nach Theresienstadt deportiert, dort schöpft sie, schon ausgemergelt und halb verhungert, Kraft aus dem Musizieren mit den Mithäftlingen. Bis Juli 1944 wird sie noch aus Mozarts Zauberflöte die Königin der Nacht singen, ebenso wie die Partien der Gilda und der Floria Tosca. Ende Oktober 1944 werden Ada und Max Hecht nach Auschwitz verbracht und ermordet.

Gravierende Veränderungen. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bringt für die Volksoper insgesamt gravierende Veränderungen mit sich: Die Direktoren Jean Ernest und Alexander Kowalewski werden sofort ausgetauscht, Entlassungen auf allen Ebenen des Hauses folgen, von Opernsängerinnen und -sängern über Dirigenten, Orchestermusiker und Librettisten bis hin zum Theaterarzt. Aber antijüdische Tendenzen sind bereits im Gründungsjahr 1898 des damaligen Kaiser-Jubiläums-Stadttheaters festzumachen. Der Theaterverein engagierter Bürger hatte eine antisemitische Satzung: In einer „Denkschrift“ an Bürgermeister Karl Lueger rühmte sich Direktor Adam Müller-Guttenbrunn 1903 seines antisemitischen Spielplans und versicherte: „Wir haben nur christliche Schauspieler, wir führen nur Werke christlicher Schriftsteller auf.“ Zynischerweise wurden solche Maßnahmen mit dem alten Wort von Friedrich Schiller „Die Bühne als moralische Anstalt“ begründet.

„Man stellt sich vor, dass Emigrantsein eine Berufung oder ein Beruf ist. Dem ist nicht so, Emigrantsein war die Verdammnis. Verschärfte oder gemilderte, je nachdem. Es war ein Zwischen-zwei-Welten-Sein, ein nicht mehr und noch nicht, ein vielleicht nie mehr oder vielleicht ein Fünkchen Hoffnung“, schreibt der Regisseur und Theaterintendant Karl Lustig-Prean, der 1937 nach São Paulo emigrierte und 1948 nach Wien zurückkehrte. „Emigranto nennt mein Freund p. d. die Sprache, die unsere Sprache gewesen sein soll. Emigrantis ist jedenfalls eine Krankheit.“ Marie-Theres Arnbom zitiert diesen vielseitigen Theatermann, der 1935 Chefredakteur der Deutschen Presse in Prag wurde: „Eine treffendere und zeitlosere Beschreibung dieses Schicksals findet sich kaum“, sagt die Historikerin, die an die Universitäten appelliert, das reichlich vorhandene und nicht aufgearbeitete Material über Künstler dieser Schreckenszeit von Studenten aufarbeiten zu lassen.

Ohne die persönliche Tragik, die unwiederbringlichen Verluste der Vertriebenen zu vergessen, zeigt Arnbom an zahlreichen positiven Beispielen auf, welch großen Kulturtransfer diese Österreicher in die weite Welt brachten: „Man ist versucht zu sagen, dass sie nicht nur die USA, sondern große Teile Lateinamerikas und Australiens kulturell kolonialisiert haben.“ Walter Herbert etwa, Chefdirigent an der Volksoper, gründete in den USA neben zwei Opernhäusern die erste „All Black Opera Company“ in Mississippi; Walter Taussig entwickelte sich als Korrepetitor zum legendären „Coach“ an der New Yorker Met und erarbeitete mit Birgit Nilsson die Elektra; mit Placido Domingo studierte er u. a. den Parsifal ein.

László Halász, 1905 im ungarischen Debrecen geboren, studierte an der Budapester Musikakademie bei Koryphäen wie Béla Bartók, Ernst von Dohnanyi und Zoltán Kodály. Als brillanter Pianist startete er durch, doch sein eigentliches Ziel war das Dirigieren. Er wurde Assistent von George Szell an der Deutschen Oper in Prag und arbeitete als Kapellmeister an der Volksoper. 1935/36 ist er Assistent bei Bruno Walter und Arturo Toscanini bei den Salzburger Festspielen. Letzterer engagiert ihn auch für sein NBC Orchestra in New York, wo Halász ab November 1936 in Sicherheit ist. 1943 beschließt der New Yorker Bürgermeister Fiorello H. LaGuardia, ein städtisches Opernhaus zu gründen, das durch niedrige Kartenpreise die Menschen mit diesem Genre vertraut machen soll. Direktor der New York City Opera wird László Halász.

Aber nicht nur in Amerika zeigt sich dieser „Kulturtransfer wider Willen“: So macht Henry (Heinrich) Krips, Bruder des weltberühmten Josef Krips, das australische Publikum in verschiedenen Städten mit europäischer Musik bekannt. Der Komponist Hans Holewa spielt als erster Musiker Schönbergs Werke in Schweden. Der Sänger und Komiker Eugen Strehn (ursprünglich Stern) aus Güssing führt die Fledermaus in Bogotá, Kolumbien, auf, und Franz Ippisch, 30 Jahre angesehener Solocellist im Orchester der Volksoper, beeinflusst als Militärkapellmeister in Guatemala den dortigen Musikgeschmack. 

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