„Schlimme Kindheiten, Frauen und Juden“

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Sie kann auf ein erstaunliches Lebenswerk zurückblicken. Als Autorin von Kinder- und Jugendbüchern, als Herausgeberin und Biografin von Anne Frank und als Starübersetzerin. Für all das ist sie oft ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse für Judas von Amos Oz. Im Juni feiert Mirjam Pressler ihren 75. Geburtstag. Aus diesem Anlass ein Gespräch mit Anita Pollak.

WINA: Worauf sind Sie denn im Rückblick auf Ihr Leben am meisten stolz?

Mirjam Pressler: Stolz bin ich darauf, dass ich drei Kinder unter schwierigen Bedingungen großgezogen hab. Was meine Arbeiten betrifft, grundsätzlich auf meine jahrzehntelange Beschäftigung mit Anne Frank, die ich mit der Biografie über sie abgeschlossen habe.

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Wo liegt nach all den Arbeitsjahren Ihre literarische Liebe, beim Schreiben oder beim Übersetzen?

❙ Sicherlich beim Schreiben. Ich übersetze aber sehr, sehr gerne, es sind völlig verschiedene Arbeiten. Wenn ich ein eigenes Buch beendet hab, erhole ich mich von diesem Stress dann beim Übersetzen. Natürlich ist das auch Arbeit, es erfordert Konzentration und Hingabe, und ich habe Abgabetermine. Ich gehöre aber zu den Menschen, die unter Termindruck gut arbeiten. Ohne Druck schlampt man auch ein bisschen.

„Eine große Herausforderung für Schriftsteller ist es ja gerade, Sprachloses in Sprache zu übersetzen“, haben Sie einmal geschrieben. Ist das Ihre Mission?

❙ Wenn es eine Mission gibt, dann wäre es die, doch ich denke nicht großartig über Missionen nach. Es ist aber das, was ich aus Büchern gelernt habe, was jeder aus Büchern lernen kann, was Literatur überhaupt kann. Man lernt, differenzierter hinzuschauen, lernt fremde Lebenspläne kennen und kann die eigenen daran messen.

Sie übersetzen aus mehreren Sprachen. Anne Frank aus dem Niederländischen und die erste Liga der israelischen Autoren. Haben Sie da Favoriten, Sympathien, private Vorlieben, liegt Ihnen da ein Autor mehr als ein anderer?

❙ Ja, ich übersetze sehr gern Amos Oz, Zeruya Shalev, Lizzie Doron, Aharon Appelfeld, Mira Magen und Uri Orlev. Mit Lizzie bin ich auch befreundet und reise mit ihr bei Buchpräsentationen. Bei Shalev fasziniert mich die Sprache, bei den anderen die Themen, bei Oz beides. Judas hat mich überhaupt begeistert, und ich war glücklich, dass ich es übersetzen durfte.

Hat Sie der Übersetzerpreis, den Sie dafür erhalten haben, überrascht?

❙ Ja, sehr, und ich finde es wunderbar. Ich bin überhaupt froh, dass es diesen Preis gibt, denn Übersetzen ist eine schlecht bezahlte und wenig beachtete Arbeit. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Preis bekomme, weil die Sprache ja so klein ist. Die israelische Literatur ist natürlich nicht klein, sie ist sehr vielfältig, und es gibt einige sehr gute Autoren.

Als eine deutsche Jüdin Jahrgang 1940 haben Sie fast naturgemäß eine schwierige Kindheit gehabt. Sie sind bei einer Pflegefamilie aufgewachsen. Was geschah denn mit Ihrer Mutter bzw. woher haben Sie ihre jüdische Identität?

❙ Meine Mutter war ziemlich asozial. Ich hab sie zwar kennen gelernt, aber es wurde nie etwas daraus. Die Pflegefamilie, in der ich aufwuchs bis ich elf Jahre alt war, war nicht jüdisch, aber es wurde mir gesagt, dass ich Jüdin bin, und ich hab viele Jahre alles auf mein Jüdischsein geschoben, was eigentlich soziale Probleme waren. Das Asoziale macht einen aber auch freier, es engt weniger ein als das Aufwachsen in so genannten guten Familien. Meine jüdische Identität habe ich mir selbst erarbeitet.

„Meine Lateinlehrerin, die Altphilologin war, hat gemeint, es wäre für mich an der Zeit, auch Hebräisch zu lernen, und hat mich, ohne Geld dafür zu verlangen, darin unterrichtet.“

Wie kam es zu Ihrer perfekten Beherrschung des Hebräischen, das ja eine Fremdsprache für Sie ist?

❙ Meine Lateinlehrerin, die Altphilologin war, hat gemeint, es wäre für mich an der Zeit, auch Hebräisch zu lernen, und hat mich, ohne Geld dafür zu verlangen, darin unterrichtet. Ich hab die Sprache nur aus der Bibel gelernt und konnte, als ich nach Israel kam, kein Wort reden, was sich aber schnell geändert hat. Ich weiß nicht, ob ich es perfekt beherrsche, aber für israelische Verhältnisse reicht es.

Das ist wohl Understatement, Sie sind doch nach allen Maßstäben eine begnadete Übersetzerin.

❙ Das hört sich großspurig an, aber ich denke, ich habe einfach ein Gespür dafür. Es kommt auch darauf an, wie sehr man sich auf ein Buch einlassen kann. Man muss auch spüren, was zwischen den Zeilen steht.

Wie hat sich Ihre Beziehung zu Israel auf Grund der Literatur verändert?

❙ Die Beziehung zum Land war schon vorher da, ich habe ja einige Zeit dort gelebt. Natürlich habe ich jetzt noch mehr menschliche Beziehungen. Ich liebe Israel und bin mindestens einmal im Jahr dort.

Als Übersetzerin sind Sie ja auch so etwas wie eine kulturelle Botschafterin des Landes. Wie erleben Sie das Bild Israels in der deutschen Öffentlichkeit, welche Rolle spielt da die Literatur?

❙ Das ist eine extrem schwierige Frage. In literarischen Kreisen ist das Bild differenziert und gut. Da ich wirklich als Botschafterin wahrgenommen werde, würde man mir auch nichts anderes sagen. Linke Kreise sind eher pro palästinensisch und gegen Israel, was mich sehr stört. Die Literatur kann das Bild schon dadurch verändern, dass einem das Land nicht mehr so fremd ist, ich fürchte nur, dass die Engstirnigen die Bücher gar nicht lesen.

Sie sind Großmutter von fünf teilweise schon erwachsenen Enkelkindern und schreiben immer noch Kinder- und Jugendbücher. Kann man dafür einmal auch zu alt werden?

❙ Das kommt darauf an, was man schreibt. Man wird nicht zu alt, wenn man bei seinen eigenen Themen bleibt. Meine sind vor allem schlimme Kindheiten, Frauen und Juden. Das passt für mich irgendwie zusammen, weil viele ältere Juden eine seltsame Biografie haben. Mir geht es um Identitätssuche, wie Identität wächst und wie man mit schwierigen Umständen zurechtkommt. Das interessiert mich, und bis jetzt hat es immer geklappt, dass es auch andere interessiert.

Ihr unglaubliches Arbeitspensum wäre schon für weit Jüngere kaum zu schaffen. Sie sind jetzt 75. Hat das irgendeine Auswirkung auf Ihre Arbeit?

❙ Keine Ahnung. Im Moment geht’s noch. Ich übersetze gerade den neuen Roman von Zeruya Shalev, der im Herbst erscheinen soll, und ein niederländisches Jugendbuch, und dann möchte ich wieder ein Buch schreiben. Ich habe ja einen Hausmann und muss mich daheim um nichts kümmern.

Mirjam Pressler wurde 1940 in Darmstadt als uneheliches Kind einer Jüdin geboren und wuchs bei Pflegeeltern auf. Sie studierte in Frankfurt und verbrachte ein Jahr in einem Kibbuz in Israel. Ende der 70er begann sie zu schreiben. Ihre drei Töchter hat sie nach ihrer Scheidung allein großgezogen, wobei sie acht Jahre lang einen Jeansladen führte. Sie übersetzte mehr als 300 Werke aus dem Englischen, Niederländischen und Hebräischen. Ihr Hauptwerk ist die kritische Werkausgabe der Anne-Frank-Tagebücher. Mit ihren eigenen Werken zählt sie heute zu den wichtigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Dafür erhielt sie auch zahlreiche Preise. Mirjam Pressler lebt mit ihrem „Hausmann“ bei München.

Bild: © picturedesk.com/Jan Woitas

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