Schuss und Gegenschuss

1847

Konfliktherde, wohin wir schauen. Auf allen Kanälen: Verbalattacken, Übergriffe, Kampfhandlungen, Mord und Totschlag. – Wie umgehen mit dem täglichen Wahnsinn, der uns im Wohnzimmer um die Ohren knallt? Von Paul Divjak

Konfliktherde, wohin wir auch schauen. Auf allen Kanälen: Verbalattacken, Übergriffe, Kampfhandlungen, Mord und Totschlag. Von allerorts prasseln Horrormeldungen auf uns ein. Wir sind umgeben von Katastrophenbilder, die wir nicht (mehr) verifizieren können und die dennoch in ihrer Wirkung unseren Wahrnehmungsapparat, unseren Organismus überfordern; reale Unmenschlichkeit und Infokrieg Marke 2.0.

Nach dem täglichen Nachrichtenschauer kommen das Kotzen, die Ohnmacht, das Paralysiertsein oder der Eskapismus, der Rückzug in unser Konsens-Neo-biedermeier-Idyll, die heimelige Konsumscheinwelt.

  Wie umgehen mit dem täglichen Wahnsinn, der uns im Wohnzimmer um die Ohren knallt?

Teenager werden von Ordnungshütern umgebracht, Zivilmaschinen abgeschossen; Tote liegen stundenlang mitten auf der Straße, tagelang auf fremden Äckern verstreut zwischen Sonnenblumen. (Die näheren Umstände liegen immer noch verschleiert hinter den Rauchsäulen der Absturzstelle verborgen.)

Hier schlagen Raketen ein, bersten Fenster, stürzen Häuser ein, begraben Menschen unter sich; gezielte Militäraktion. Dort sterben Kinder, weil sie zu langsam sind, sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen können; Bruch der Waffenruhe.

„Alles um euch herum ist gespalten. Seht ihr das? Und wer hat es gespalten? Das haben die Menschen getan. Das heißt, das Denken hat es verursacht.“ Jiddu Krishnamurti

In HD werden Köpfe abgetrennt; Lynchjustiz. Archaisch-martialische Selbstbehauptung, höchstmögliche Brutalität; Märtyreroperation.

Entscheidungsträger und Armeen setzen global auf Aufrüstung; immer mehr und noch effektiveres Kriegsgerät; Kampfflugzeuge, Helikopter, Kriegsschiffe, Panzerfahrzeuge, bewaffnete Drohnen, Raketenwerfer, Granaten, Maschinenpistolen, Handfeuerwaffen.

Man(n) führt Partisanenkämpfe, Angriffskriege, Verteidigungskriege und Vernichtungskriege, setzt Präventiv- und Vergeltungsschläge.

Nationalstaatliches Militär in Uniform, Separatistenmilizen, Undercoversöldner, Rebellen in Camouflage, Glaubenskrieger in Kampfmontur, vermummt: Mit militärischem Gerät und Präzisionswaffen in der Hand soll dem Gegenüber der Garaus gemacht, das Übel vernichtet werden. Es geht um den Anspruch auf Wahrheit und das Besetzen von psychischen, physischen und geografischen Territorien. Es geht – je nach Blickwinkel – ums Überleben, um Gebiets- und Religionshoheiten, Ressourcen und das Paradies.

Das Denken, die Körper, das Land: alles in einer Hand, die sich als Ideologie, als Glauben schützend über die Gestaltung der Hölle auf Erden legt.

   Verbote und Gebote, Intoleranz und die Konstruktion des anderen, den es zu bekämpfen gilt, schaffen Weltbilder und ermöglichen eine klare Trennung in „gut“ und „böse“, „richtig“ oder „falsch“.

Wenn der US-Präsident in Bezug auf die IS von „einem Krebs, der entfernt werden muss“ spricht und in den Medien ganz selbstverständlich und ohne zu zögern Worte wie „ausrotten“ und „ausmerzen“ verwendet werden, gilt es ob des Duktus innezuhalten. Jemandem, der zum Feind wird, die Menschenwürde abzusprechen und ihn zum Ungeziefer zu erklären, sollte uns historisch bedingt aufhorchen und erneut zu Victor Klemperers LTI – Notizbuch eines Philologen greifen lassen. („Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.“)

Kampfrhetorik, die alte Denkmuster tradiert, bestimmt unsere Zeit. Der Tenor der militarisierten Haltung prägt das Wort, das Handeln, den Weg. Schuss und Gegenschuss.

Die Welt brennt. Und der Mensch ist des Menschen Feind – als wären wir als Menschheit nicht verbunden.

Zeichnung: Karin Fasching

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