Sprache des Herzens

Das Yiddish Culture Festival Vienna setzt ab heuer auf die Kombination der jiddischen Sprache mit Musik. Warum, erklärt der neue Festivalleiter Roman Grinberg im Interview mit WINA. Ein Gespräch mit Alexia Weiss.

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Für Roman Grinberg ist Jiddisch gelebte Kultur und eine Sprache, die er auch zuhause spricht. © Daniel Shaked

Interview mit Roman Grinberg

WINA: Aus dem Jiddischen Kulturherbst wurde das Yiddish Culture Festival Vienna. Was bedeutet für Sie jiddische Kultur?
Roman Grinberg: Ich verbinde damit meine Kindheit, meine Eltern, die Sprache, die bei uns zu Hause gesprochen wurde. Die Sprache, mit der ich eigentlich aufgewachsen bin im Schtetl Belz, Republik Moldowa, seinerseits UdSSR. Und ich verbinde damit zu Hause, ein Heim, Wärme, Geborgenheit.

Kann man sagen, dass das Ihre Muttersprache ist?
❙ Es ist meine Muttersprache. Meine Großmutter konnte kein Russisch, sie konnte nur Jiddisch, und sie hat bei uns gelebt, so haben wir Jiddisch gesprochen. Natürlich haben wir dann, als wir alt genug waren, um in den Kindergarten und in die Schule zu gehen, Russisch gesprochen.

Wie war damals das Standing des Jiddischen in der UdSSR – war es in der Öffentlichkeit verboten oder geächtet?
❙ Ich habe als Kind mitbekommen, dass man es in der Öffentlichkeit vermeiden sollte, vermeiden musste. Es war dieses bestimmte Gefühl, dass es nur zu Hause gesprochen wird oder wenn unsere Onkeln und Tanten da waren oder wir bei ihnen zu Hause. Und so spricht auch mein Cousin in Berlin oder sprechen meine Cousinen in Israel alle fließend Jiddisch, weil wir damit aufgewachsen sind.

Wie geht es Ihnen dann damit, wenn oft gesagt wird, Jiddisch sei eine tote Sprache?
❙ Es geht mir ganz schlecht dabei, und ich kann es nicht akzeptieren, dass Jiddisch als tote Sprache bezeichnet wird. Ich hatte vor zirka 15 Jahren sogar mit einem amerikanischen Wissenschaftler eine Auseinandersetzung diesbezüglich. Das war anlässlich einer Podiumsdiskussion, bei der er Jiddisch eine tote Sprache genannt hat, worauf ich ihm gesagt habe, als tote Sprache verstehe ich, wenn in einem Reservat zwei letzte Indianer irgendeinen Dialekt sprechen, und wenn die beiden tot sind, dann gibt es die Sprache nicht mehr. Daraufhin hat er gemeint, es sei zumindest eine sterbende Sprache. Das hat mich sehr gekränkt, wo­rauf er wiederum erklärt hat, als sterbende Sprache bezeichne er es, solange nichts Neues entsteht. Eine Sprache ist dann lebendig, wenn etwas Neues entsteht, wenn neue Gedichte, Bücher, Lieder geschrieben werden.

Ist eine Sprache aber nicht auch dann lebendig, wenn sie von Menschen gesprochen wird – und das ist doch der Fall?
❙ Diese Sprache wird von einer großer Anzahl orthodoxer Juden im Alltag gesprochen, aber diese Sprache unterscheidet sich deutlich von der Muttersprache, von der mameloschn, in der ich aufgewachsen bin.

Inwiefern?
❙ Ich habe oft diese Erfahrung gemacht, dass man einfach hebräische Wörter verwendet und ihnen eine jiddische Endung zukommen lässt. Was ja tatsächlich ein Teil des Jiddischen ist, ich würde sagen, etwa 20 Prozent bestehen daraus. Aber gerade bei den orthodoxen Juden in Israel habe ich das oft gehört, wenn sie mit ihren Kindern sprechen, aber auch bei verschiedenen Festivitäten – es ist sehr vieles anders. Es wird anders ausgesprochen. Und die Sprache, die seinerzeit aus dem Mittelhochdeutschen gekommen ist und zu etwa 70 Prozent aus Deutsch besteht, die verkommt. Es werden weniger deutsche Ausdrücke verwendet und mehr hebräische. Ich will nicht sagen, dass es nicht jüdisch ist, aber nicht das Jiddisch, das man bei uns in Osteuropa zu Hause gesprochen hat.

»Ich fürchte, dass das Studieren auf einer Uni allein nicht ausreicht, um das Jiddische wirklich zu spüren.«

 

Wenn man sich jetzt in Wien umsieht, gibt es ja auch Kindergärten und Schulen, in denen Jiddisch gesprochen wird. Ist das dieses hebräisch orientierte Jiddisch oder doch das frühere Wiener Jiddisch?
❙ Das Westjiddisch war ja großteils assimiliert und ist seit dem 18. Jahrhundert eigentlich von der Bildfläche verschwunden. Wenn wir heute von Jiddisch sprechen, dann ist es das Ostjiddisch, wir sprechen vom Ostjudentum – also Polen, Litauen, Rumänien und von da weiter östlich, Ukraine und Russland.

Es gibt also keine Jiddisch-Tradition in Wien? Jiddisch war doch im 19. Jahrhundert, vor allem aber dann um und nach der Jahrhundertwende hier hörbar?
❙ Ja, von osteuropäischen Juden. Sie haben das Jiddische hier bereits vor dem Ersten Weltkrieg etabliert. Und dann wurde es eben, wie wir wissen, durch den Holocaust ausgerottet.

Sie sehen da aber keine Wiener Tradition.
❙ Doch, gerade im Wienerischen, im Dialekt und im Slang werden Begriffe aus dem Jiddischen entliehen, entnommen.

© Daniel Shaked

Können Sie ein paar Beispiele nennen?
❙ Ich hab ein Masl gehabt oder auch meschugge, beides abgedroschen. Aber sogar der Knast kommt aus dem Jiddischen, was wiederum aus dem hebräischen Knesset kommt. Ein anderes Beispiel ist der Haberer, der vom hebräischen chaver kommt. Es werden aber nie im Wienerischen jiddische Ausdrücke verwendet, die aus dem Deutschen kommen, sondern immer die, die aus dem Hebräischen stammen.

Jiddisch ist oft mit Nostalgie verknüpft. Sie bemühen sich aber auch um zeitgenössische Kompositionen mit jiddischen Texten. Gibt es da auch von anderen Bemühungen, das Jiddische am Leben zu erhalten?
❙ Es gibt auf der ganzen Welt solche Bemühungen. Es gibt viele Menschen, sogar in Israel, die hier Neues schaffen. Und ich sage „sogar“, weil dort das Jiddische Jahrzehnte lang verpönt war, weil beschlossen wurde, dass man in Israel Hebräisch und nicht Jiddisch spricht, weil das Jiddische die Sprache der Schoah war. Diese Sprache erlebt jetzt auf der ganzen Welt ein Revival. Begonnen hat das in den USA mit großen Künstlern wie dem kürzlich verstorbenen Theodore Bikel. Den Trend gibt es aber auch in der ehemaligen Sowjetunion, in Großbritannien, in Frankreich, in Deutschland, und ein bisschen verspätet kam er nach Wien, und hier bin ich auch nicht allein, es gibt Menschen, die Gedichte schreiben, Lieder.

Kann man das Jiddische auch am Leben erhalten, wenn man es erst als Erwachsener als Fremdsprache lernt und nicht von Kind auf kennt?
❙ Eine ähnliche Frage wird mir immer wieder gestellt: Kann ein Nichtjude Klezmer spielen? Die Antwort ist ja. Aber man kann es nur, wenn man in diese Kultur eingetaucht ist, über viele, viele Jahre, wenn man unter Umständen gelebt hat in einer Familie, die Jiddisch spricht. Ich fürchte, dass das Studieren auf einer Uni allein nicht ausreicht, um das Jiddische wirklich zu spüren. Es bleibt eine Fremdsprache. Es bedarf eines Spürens und nicht nur des Verstehens und Wissens. Alleine mit dem Ausdruck „o“ und dem Zeigefinger oder „nu“ können wir sehr viel ausdrücken, wenn man es gespürt und gelernt hat. Mit Frage- oder Rufzeichen geschrieben, ausgesprochen, je nach Stimmlage, Tonhöhe, Länge, Dauer und Betonung gibt es unzählige Bedeutungen. Und wenn ich oj sage, spüre ich, wie ich mich als Kind gefühlt habe, wenn meine gottselige Mutter oj gesagt hat.

Haben die Kunstschaffenden, die neue jiddische Texte produzieren, die Sprache eher in der Familie erlernt oder erst im Erwachsenenalter aus eigenem Antrieb?
❙ Es sind viele dabei, die Jiddisch erst später erlernt haben, und ich bin jedem Einzelnen von tiefstem Herzen dankbar für seine Bemühungen. Ich bin froh, dass diese Kultur lebt, dass diese Tradition wiederbelebt wird. Heute haben wir an die 100 jiddische Zeitungen, Zeitschriften und Radioprogramme weltweit. Von einer toten Sprache will ich nichts hören.

Versuchen Sie, die Sprache in der Familie am Leben zu erhalten – sprechen Sie mit ihren Kindern und Enkeln Jiddisch?
❙ Ich versuche es. Meine Kinder beherrschen einige jiddische Ausdrücke und Redewendungen und setzen sie auch richtig ein, weil sie damit aufgewachsen sind. Meine Enkelkinder wachsen aber mit Eltern auf, die Hebräisch sprechen, mit Jiddisch passiert da nicht viel.

Sie sehen also auch selbst, dass sich hier etwas verändert.
❙ Ich sehe es selbst und bin daher auch allen dankbar, auch Nicht-Juden, die sich der jiddischen Sprache annehmen. Meine Enkel können in Israel mit ihren Großeltern Hebräisch sprechen, aber wo sollen sie Jiddisch sprechen? Sie hören aber sehr gerne meine Lieder und singen meine jiddischen Lieder auswendig mit. Über die Musik habe ich einen guten Zugang zu ihnen gefunden.

Musik ist auch ein wichtiger Bestandteil des Yiddish Culture Festival. Was macht das Festival zu einem jiddischen Festival?
❙ Jede Veranstaltung wird sich sowohl musikalisch als auch literarisch der Sprache beziehungsweise der jiddischen Tradition annähern. Was macht es Jiddisch? Es ist eben kein Schwerpunkt auf Klezmer-Musik, sondern bei allen Konzerten werden jiddische Lieder gesungen. Der Schwerpunkt liegt in der jiddischen Musik.
Ich möchte die Geschichte des Festivals mit ein paar Worten beschreiben. Begonnen hat es mit den Jiddischen Theaterwochen, später wurden es die Jiddischen Kulturwochen, ab 2010 war es der Jiddische Kulturherbst. Und jetzt heißt es Yiddish Culture Festival Vienna, weil wir auch international werden wollen. Als es Jiddische Theaterwochen gab, vor mehr als 20 Jahren, war es sehr erfolgreich in Wien. Es gab auch noch viele ältere Menschen, die Jiddisch gesprochen haben. Diese älteren Menschen gibt es nicht mehr. Es gibt also in Wien das Publikum für jiddisches Theater kaum noch.
Die Aufgabe des Festivals ist meiner Meinung nach nicht, einfach nur ein Festival abzuhalten, sondern die Öffentlichkeit zu erreichen. Ich möchte wieder viel Publikum haben, das sich dem Jiddischen annähert. Die jiddische Sprache selbst ist dem Wiener Durchschnittspublikum allerdings vermutlich relativ egal. Die Lesungen in jiddischer Sprache werden von einer Handvoll Menschen besucht, wenn es gut geht von ein paar Dutzend Menschen. Sobald es aber um Musik geht, um jiddische Lieder, habe ich eine große Chance, ein breites Publikum zu erreichen. Und das ist mein wichtigstes Ziel. Ich möchte ein Publikum darauf aufmerksam machen: Schaut mal, das Jiddische, das wurde einmal von Millionen gesprochen, und jetzt gibt es diese Sprache fast nicht mehr, aber die Tradition lebt weiter, und die Lieder bleiben immer bestehen.

Es geht also nicht mehr darum, Menschen zu erreichen, die das Jiddische verstehen.
❙ Ich möchte ein Gefühl vermitteln, dass Juden Menschen sind wie alle anderen. Dass wir die gleichen Wünsche und Bedürfnisse haben. Dass wir genauso ganz einfach unsere Kinder großziehen wollen, arbeiten, lernen, essen, trinken, feiern, in Ruhe und Frieden mit allen anderen leben möchten. Wenn man es erkannt hat, dann gibt es in letzter Konsequenz für alle nur einen Weg: in Frieden miteinander leben. Und wenn ich so ein Festival abhalte, und es kommt Wiener Publikum – ich möchte ja nicht nur Juden erreichen, sondern alle Wienerinnen und Wiener – und sie sehen, die Juden auf der Bühne sind Menschen wie wir und sie erzählen uns etwas, und die Geschichten sind ganz ähnlich den eigenen, dann schafft das ein verbindendes Gefühl. Es ist dann nicht mehr fremd. Das ist mein Weg, eine Brücke zu bauen.

Das diesjährige Programm setzt stark auf local heroes und die Wiener Szene. Soll das auch in Zukunft so sein?
❙ Ich möchte das Festival genau so handhaben, es wird im Programm immer nur wenige ausländische Gäste oder eine internationale Gruppe geben, und alles andere soll mit Wiener oder österreichischen Künstlern abgedeckt werden. Soweit wie möglich zumindest.

Wie sorgen Sie dann über Jahre für Abwechslung?
❙ Das ist einmal der Plan für die nächsten paar Jahre. Es wird ein immer neues Programm geben, auch wenn sich Interpreten wiederholen. Ich möchte aber auch betonen: Wir haben heuer fünf Veranstaltungen, wir haben aber unzählige jüdische Gruppen und Interpreten in Wien. Es würden sich auch 15 Veranstaltungen ausgehen. Dennoch, ein Festival muss sich auch flexibel an den Zeitgeist anpassen können.

Wo liegt beim heurigen Programm der rote Faden?
❙ Jede Veranstaltung ist eine Kombination aus Konzert jiddischer Lieder und Literarischem – Literatur jüdischer Autoren deutscher Sprache, damit es verstanden wird, und die Musik ist in Jiddisch.

Wohin soll das Festival in Zukunft gehen?
❙ Ich möchte dem Wiener Publikum das Gefühl mitgeben, dass das Jiddische die Sprache des Herzens ist.


Das Yiddish Culture Festival Vienna
Von den Jiddischen Theaterwochen bis zum Jiddischen Kulturherbst: In seiner mehr als 20-jährigen Geschichte hat das von Kurt Rosenkranz begründete und vom Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung (JIFE) veranstaltete Jiddisch-Festival schon mehrere Namen getragen. Als Yiddish Culture Festival Vienna setzt es nun auf die Verbindung von Jiddisch mit Musik. Seit heuer wird es von Roman Grinberg geleitet.
Fünf Veranstaltungen zwischen 29. November und 14. Dezember setzen heuer vor allem auf Wiener Interpreten und Autoren, von Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg und Doron Rabinovici über Oberkantor Shmuel Barzilai bis zu Erwin Steinhauer oder Giora Seeliger. Es gibt aber auch Besuch aus dem Ausland: Die Varnitshkes aus Lemberg gastieren beim diesjährigen Yiddish Culture Festival Vienna.
yiddishculturevienna.at

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