Sprechende Hände

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nicht verstummt – in dem österreichischer Dokumentarfilm erzählen gehörlose jüdische Überlebende des Nationalsozialismus ihre
Geschichten. Von Verena Krausneker

Lillys Hände huschen schnell und elegant durch die Luft, als sie sich erinnert, wie der kleine Tempel, in dem ihre Eltern heirateten, niederbrannte. In American Sign Language erzählt sie ihre Erinnerungen an ein Wien und an eine Familie, die es heute nicht mehr gibt: Sie lebte mit ihren gehörlosen Eltern und ihrer gehörlosen Schwester im zweiten Bezirk der 1930er-Jahre, eingebettet in eine blühende jüdische Gehörlosengemeinschaft. Lillys Hände sind die einer Achtzigjährigen, aber ihre Finger sind beweglich, ihre Gebärden elastisch und klar, ihre Mimik voll Präzision. Damals war in einem Café ums Eck, in der Hollandstraße 8, das Lokal des Vereins zionistischer Gehörloser in Wien. Die beiden Schwestern besuchten – wie viele andere jüdische gehörlose Kinder – die „Taubstummenschule“ auf der Hohen Warte. Lilly war acht Jahre alt, als sie mit ihrer Großmutter, Mutter und Schwester nach New York fliehen konnte. Sie verwendet beim Erzählen fast ausschließlich Vokabular aus der American Sign Language, sie hat nur wenige Erinnerungen an ihre Muttersprache, Österreichische Gebärdensprache.

Intensiver Austausch. Zwei Wiener Gebärdensprachforscherinnen suchten auf der ganzen Welt gehörlose ZeitzeugInnen.
Intensiver Austausch. Zwei Wiener Gebärdensprachforscherinnen suchten auf der ganzen Welt gehörlose ZeitzeugInnen.

Gehörlose Menschen stellen weltweit eine sprachliche Minderheit dar, die sich vorrangig über die jeweilige nationale Gebärdensprache definiert. In Österreich ist die Sprachminderheit seit dem 1. September 2005 verfassungsmäßig anerkannt, die Gebärdensprachgemeinschaft blüht wieder und Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist eine lebendige Sprache, in der Alltag gelebt wird, Gedichte dargeboten, Vorlesungen gehalten und täglich Fernsehnachrichten gedolmetscht werden. Doch durch nationalsozialistische Gesetze wurde die Gemeinschaft mit unzähligen Vereinen, Schulen und einer guten inneren Organisation fast zerstört.

Für das Projekt Gehörlose ÖsterreicherInnen im Nationalsozialismus erzählt Lilly, die heute mit ihrem Mann in Florida lebt, viele Stunden lang, zeigt ihre mit Liebe erstellten Fotoalben und teilt Erinnerungsschätze. Sie ist eine von 24 gehörlosen ZeugInnen dieser Zeit in den USA und in Österreich, deren Lebensgeschichten nun dokumentiert wurden. Zwei Wiener Gebärdensprachforscherinnen schufen damit Informationen über die von Euthanasie, Zwangssterilisation und anderen Diskriminierungen betroffene gehörlose Minderheit, die heute rund 10.000 Personen umfasst.

Lebensrettende Flucht
Lilly ist eine von 12 überlebenden gehörlosen JüdInnen aus Wien.
Lilly ist eine von 12 überlebenden gehörlosen JüdInnen aus Wien.

Nur 5 bis 10 % gehörloser Menschen haben, so wie Lilly, gehörlose Eltern. Die Identitätsfindung aller anderen, also rund 90 % der Gehörlosengemeinschaft, ist ein oftmals mühseliger und langwieriger Weg. Das bedeutet, die Weitergabe der Sprache, der Erhalt der Kultur und Identität und die Tradierung der gemeinsamen Geschichte sind besonders fragil. Viele der österreichischen Gehörlosen unter 80 Jahren wussten nicht einmal, dass es einst jüdische Gehörlosenvereine gab.

Lilly erzählt für diese und zukünftige Generationen über ihre lebensrettende Flucht, die nur ganz wenigen der jüdischen gehörlosen Wiener gelang. Die nationalsozialistischen Gesetze bewirkten 1938 sehr schnell, dass die ausgezeichnet vereinsmäßig organisierte Gehörlosenwelt „judenrein“ gemacht, Vereine gelöscht, Vermögen beschlagnahmt wurde.

Die NS-Gesetze bewirkten 1938, dass die vereinsmäßig organisierte Gehörlosenwelt ‚judenrein‘ gemacht wurde.

Eine weitere Spaltung trat mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ein, das in Österreich am 1. Jänner 1940 in Kraft trat: Plötzlich machte es einen Unterschied, wie man sein Hörvermögen „verloren“ hatte. Die Trennung der Gemeinschaft in „erblich belastete“ und „gesunde“ bewirkte eine völlige Entsolidarisierung. Die spät oder durch Krankheit Ertaubten waren in Sicherheit und konnten sogar Karrieren als Funktionäre machen, wie zum Beispiel der Wiener Karl Brunner, der ab 1942 zwei Jahre lang Leiter des Reichsverbandes der Gehörlosen Deutschlands war. Die anderen waren durch das Gesetz erfasst, ihre Kinder gewaltsam abgetrieben, viele wurden zwangsweise sterilisiert. Schätzungen gehen von rund 300.000 damals zwangsweise unfruchtbar gemachten Menschen in Deutschland und Österreich aus.

Mit kleinen Gebärden erzählt Lil-ly, dass sie jahrzehntelang ihren Vater suchte. Erst vor Kurzem fand sie heraus, dass er schon 1942 in Minsk ermordet worden war, sagt sie mit ungläubigem Gesicht, stützt ihre Stirn in die ruhigen Hände – und schweigt.

Die Ergebnisse und Erkenntnisse des Forschungsprojekts zum Schicksal der österreichischen Gehörlosengemeinschaft in der NS-Zeit flossen allesamt in eine acht Kurzfilme umfassende DVD ein. Schließlich sollten die ZeitzeugInnen selbst zu Wort kommen, ihre gebärdeten Berichte visuell sichtbar bleiben.

Eine gehörlose österreichische Lehrerin führt als Erzählerin durch die acht thematischen Kapitel der tonlosen DVD. Vier dieser Kurzfilme liefen auf Filmfestivals in Hongkong, Canada, den USA und Deutschland. Die Nachfrage danach war so groß, dass drei Auflagen (eine mit deutschen Untertiteln, eine mit englischen und eine mit italienischen) schnell vergriffen waren. Letztendlich wurden alle Videofilme frei und kostenlos auf der Website des Projektes zugänglich gemacht. Um auch das hörende Fernsehpublikum anzusprechen, wurde schließlich mit Hilfe des Komponisten Konrad Rennert und dreier außergewöhnlicher Synchronsprecherinnen- und Sprecher der Dokumentarfilm nicht verstummt erarbeitet. Die außergewöhnliche Arbeit wurde 2012 beim Festival der Nationen in Ebensee von der international besetzten Jury mit einem Bronzenen Bären ausgezeichnet.

Rund 120 jüdische Gehörlose aus Wien sind durch das Forschungsprojekt namentlich bekannt geworden, von 94 ist klar, dass sie ermordet wurden oder starben, von 16 gibt es keine sichere Information. Die fürsorglich aus Archivmaterial und mit Hilfe der Datenbank des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes errechneten Zahlen deuten darauf hin, dass von den gehörlosen Juden in Wien nur 10 % überlebten. Lilly ist eine dieser 12 Personen.

Website des Forschungsprojektes mit den acht Kurzfilmen, das durch den Nationalfonds und den Zukunftsfonds der Republik Österreich ermöglicht wurde: univie.ac.at/gehoerlos-im-ns

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