„Statt ‚Prost‘ sage ich immer: L’chaim!“

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Toni Faber ist seit 1997 Dompfarrer von St. Stephan. Der gebürtige Wiener und Freund von Oberrabbiner Eisenberg schreibt unter anderem für den Kurier.

Redaktion & Fotografie: Ronnie Niedermeyer

WINA: Bis zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels vor zweitausend Jahren gab es im Judentum einen Hohepriester. Wie hätte sich Ihrer Meinung nach das jüdische Priestertum weiterentwickeln können? Hätte es so etwas wie einen jüdischen Toni Faber geben können?

Toni Faber: Als Oberrabbiner Eisenberg eine Delegation aus dem Stephansdom bei sich in der Synagoge empfing, fragte ich ihn: Was ist eigentlich ein Oberrabbiner? Er stellte sich dann vor, das sei so etwas wie der Dompfarrer Toni Faber für Juden. Das hat mich sehr berührt. Ich kann mir kaum vorstellen, was heute ein jüdischer Priester tun könnte – es ist doch schon viele Jahrhunderte her, seit der Opferkult, dessen Hauptfigur der Hohepriester war, eingestellt worden ist.

Haben Sie schon mal bei einem G-ttesdienst im Stadttempel mitgewirkt?

❙ Schon als Student war ich öfters bei G-ttesdiensten im Stadttempel. Es war ein besonderes Erlebnis, die Psalmen, die ich gelernt hatte, dort auch in der Praxis zu erleben, außerdem den Predigten des Oberrabbiners zu lauschen und mit dem Kantor Gespräche zu führen. Aber nicht nur in Wien, auch in Israel habe ich an G-ttesdiensten teilgenommen. Es ist besonders bewegend, sich unserer jüdischen Wurzeln bewusst zu werden und das Judentum nicht nur zu studieren, sondern darin einzutauchen.

Der Stephansdom ist Anziehungspunkt für Besucher aus der ganzen Welt. Führen Sie seelsorgerische Gespräche mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen?

❙ Der Dom wird von vielen Leuten besucht, die nicht christlich denken. Wir haben oft muslimische Besucher, und auch der Dalai Lama hat bei uns an einem G-ttesdienst teilgenommen. Die Stelle, an der der Dom errichtet worden ist, repräsentiert nicht nur das geografische, sondern auch das spirituelle Zentrum der Stadt. Da liegt es nahe, sich nicht mit Christen zu begnügen, sondern sich ganz bewusst allen Glaubensrichtungen zu öffnen.

In letzter Zeit hat es viele Studien darüber gegeben, wie wichtig Körperkontakt für das menschliche Wohlbefinden ist. Es gibt sogar Kuschelpartys, bei denen sich Menschen auf nicht sexuelle Weise berühren. Darf man als katholischer Priester eigentlich kuscheln?

❙ Dass Menschen neben Ohr und Herz auch eine mitfühlende Hand brauchen, ist klar. In meinem Beruf ergibt es sich öfters, dass man einen Weinenden an den Schultern hält oder ihn an der eigenen Schulter ausweinen lässt. Eher dazu würde ich katholische Priester einladen: Menschlichkeit im Kontext der Seelsorge auch körperlich spüren zu lassen, statt provokant auf Kuschelpartys zu gehen. Das Risiko, dass das falsch verstanden oder bewusst ausgenützt würde, wäre zu groß. Auch wenn Kinder sich anschmiegen, wird das heutzutage oft missverständlich gedeutet. Da muss man ungeheuer aufpassen. Früher wurde es als normal angesehen, wenn ein Kind sich zu jemandem kuschelt und sich auf den Schoß setzt. Durch die Missbrauchsaffären ist die Öffentlichkeit wachsamer als zuvor, und alles, was in diese Richtung geht, wird tabuisiert. Da muss man sich auf die Zeit einstellen und sich klarer abgrenzen, als es eigentlich notwendig wäre.

Glauben Sie, dass institutionalisierter Missbrauch im Judentum weniger oft vorkommt?

❙ Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, das verbindet uns, unabhängig davon, welcher Kultur oder Religion wir angehören. Wenn jemand seine Bedürfnisse im Schatten einer Institution stillen will, kann die Institution doch nichts dafür.

Das heißt, die katholische Kirche war für solche Dinge nie anfälliger als andere Institutionen?

❙ Ganz sicher nicht. Nur weil man sich entscheidet, im Zölibat zu leben, wird man nicht zwanghaft Sexualstraftäter. Es muss schon vorher ein Defekt vorhanden sein.

Wie konnte dann das Vorurteil entstehen, die katholische Kirche sei ein Herd für sexuellen Missbrauch aller Art?

❙ Weil die Entscheidung, Ehe, Familie und gelebte Sexualität für sich auszuschließen, heutzutage nicht mehr von der Öffentlichkeit verstanden und akzeptiert wird. Jeder, der aus moralischen Gründen anders lebt, wird automatisch hinterfragt und verdächtigt. Das ist ein gesellschaftliches Vorurteil.

Sehen Sie darin eine Parallele zu antisemitischen Vorurteilen?

❙ Vorurteile sind Möglichkeiten, Dinge schnell abzuhaken, statt sich mit der Realität zu befassen. Überall gibt es Vorurteile, und oft müssen wir unser ganzes Leben daran arbeiten, diese abzubauen. Auch innerhalb des Christentums sieht man immer wieder Vorbehalte gegenüber unseren jüdischen Brüdern und Schwestern – was angesichts der Tatsache, dass Jesus und seine zwölf Apostel hundertprozentige Juden waren, absurd ist. Mensch sein bringt mit sich, dass sich solche Ressentiments einschleichen.

Was würden Sie den Leserinnen und Lesern von WINA zum Abschluss noch gerne mitgeben?

❙ Bei jeder Gelegenheit, wo mit einem Glas Wein angestoßen wird, sage ich statt „Prost“: „L’chaim!“

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