Temeswar: Kulturelles & Jüdisches von gestern und heute

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Ein Lokalaugenschein im „Klein-Wien“ des Banat, einer Stadt auf der Suche nach ihrer lebendigen und bunten Vergangenheit.

Ein Hauch von „Altösterreich“, wie es der adelige Herr ausdrückte, schwebt über der kalten Hotelhalle, als der rumänische Operndirektor und der österreichische Agrarunternehmer einander herzlich umarmen und küssen. Es ist eben nicht dieser verachtete „Bruderkuss“ aus kommunistischen Zeiten. Die Herren haben ihre warmherzige Freundschaft in die neue Zeit von Temeswar hinübergerettet. Beide sind eine einzigartige Mischung aus „Rückkehrer und Pionier“, die dieser rumänischen Stadt, gleich hinter der ungarischen Grenze, wieder ein bürgerliches und internationales Antlitz verleihen.

Die Synagoge wurde 1863–1865 nach Plänen des Wiener Architekten Ignatz Schuhmann erbaut.

„Wir haben leider keinen Rabbiner mehr“, sagt Andreas Bardeau, der Schlossbesitzer aus dem steirischen Kornberg, und zeigt auf die ehemals imposante Synagoge in der Strada Mărășești 6, die seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben ist. Erst jetzt, mit den Vorarbeiten für das Jahr 2021, in dem Temeswar europäische Kulturhauptstadt wird, soll auch der zwischen 1863 und 1865 im maurischen Stil erbaute Tempel restauriert werden. „Ich kannte den Oberrabbiner Ernö Neumann, der 2004 verstorben ist“, fügt Bardeau hinzu.
Ihn zog es schon 1999 in die „Kornkammer der Monarchie“, den Banat, der 200 Jahre lang von Österreich-Ungarn regiert wurde. „Hier kann man noch Dinge gestalten, nach den eigenen Vorstellungen kreieren und umsetzen. Das ist das Schöne daran.“ Heute vereint die Bardeau Group Romania 18 Unternehmen mit über 200 Mitarbeitern, die auf 21.000 Hektar Pflanzenbau und Tierzucht betreiben. Bardeaus spanischer Cousin Carlos hat hier mit investiert: „Jetzt konzentrieren wir uns auf einen neuen Businesspark. Es ist nicht schwer, sich zurechtzufinden, denn in der Verwaltung sind noch Reste österreichischer Strukturen vorhanden. Nicht umsonst wird Temeswar Klein-Wien genannt“, lacht der Honorarkonsul von Rumänien in der Steiermark.

Um seine Geburtsstadt musikalisch auf hohem Niveau zu beleben, kam der international erfolgreiche Tenor Corneliu Murgu im Jahr 2000 nach Temeswar zurück. Doch diesmal nicht, um in einer seiner 25 Opernpartien zu brillieren, sondern um die Rumänische Nationaloper Timișoara zu leiten. „Klassische Musik ist aus dieser Stadt nicht wegzudenken, daher haben wir eine sehr gute Auslastung unseres Hauses mit 850 Plätzen“, erzählt Murgu, der bereits 1978 an der Wiener Staatsoper sein Debüt gab. „Die ältere Generation besucht die Oper regelmäßig, und die Jüngeren konnten wir über das Genre der Operette gewinnen“, so Murgu, der außer in Wien auch an allen namhaften Opernhäusern der Welt mit Kollegen wie Placido Domingo und Luciano Pavarotti gesungen hat. Über diverse Musikfestivals und unentgeltliche Freilichtaufführungen gelang es Murgu, neues Publikum zu gewinnen. „Wir haben 50.000 Studenten in einer Stadt mit 310.000 Einwohnern und außer dem rumänischen Nationaltheater auch ein deutsches und ein ungarisches Staatstheater sowie die Staatsphilharmonie“, berichtet Murgu stolz, dessen private und berufliche Kontakte nach Wien noch immer sehr innig sind.

Die Frau Präsidentin und ihre Schäfchen

Es ist kurz vor zwölf Uhr Mittag, und Silvia Hecht spielt Scrabble mit drei anderen Damen. Ihre blütenweiße Bluse und die schwarze Strickjacke sitzen perfekt, das grau-weiß melierte Haar ist flott geschnitten. An den anderen Tischen werden Purimsymbole auf Pappkarton gemalt, an den Wänden hängen bunte Jerusalemplakate. Wir sind im Tageszentrum der jüdischen Gemeinde in Temeswar. „Wir haben zu Hause nur Deutsch gesprochen“, erzählt Hecht, die in Kürze in das bescheidene, aber sauber anmutende Speisezimmer des Gemeindezentrums gehen wird, um dort ihr koscheres Mittagessen mit den anderen einzunehmen. „Seit ich alleine bin, komme ich fast jeden Tag hierher“, sagt sie und schenkt mir ein schmales rot-weißes Bändchen, das sie geflochten hat, ein gleichartiges trägt sie um ihr Gelenk. „Der 1. März ist hier Frühlingsbeginn und Frauentag. Sind wir jetzt Freundinnen?“, fragt sie lächelnd. Nur nebenbei erwähnt sie, dass sie im KZ Buchenwald geboren wurde.

Luciana Friedmann. Seit 2010 wacht die promovierte Literaturwissenschafterin über das Weh und Wohl der rund 600 Mitglieder.

„Das sind auch meine Schäfchen“, lacht Luciana Friedmann, die 39-jährige Präsidentin der jüdischen Gemeinde. Seit 2010 wacht die promovierte Literaturwissenschafterin, die fünf Sprachen spricht, über das Weh und Wohl der rund 600 registrierten Mitglieder. „64 Jahre lang war Ernö Neumann unser Oberrabbiner und in den letzten Jahrzehnten auch unser Gemeindepräsident. Meine Generation verdankt ihm alles: Er brachte uns Hebräisch bei und gab uns ein gesundes jüdisches Bewusstsein mit auf den Weg“, erzählt Friedmann. 2004 folgte ihm kurzfristig ein 87-Jähriger nach, „der nicht so offen war“, und daraufhin befand ein verjüngter Vorstand, dass es Zeit für einen Wechsel sei.

„INSBESONDERE DIE CLAIMS CONFERENCE IST EMINENT WICHTIG, UM WENIGSTENS DIE BESCHEIDENEN BEDÜRFNISSE DER SCHOAH-ÜBERLEBENDEN ABZUSICHERN.“
– LUCIANA FRIEDMANN

Durch Friedmanns gute internationale Vernetzung mit jüdischen Institutionen in Israel gelang es ihr, die Gemeinde wieder auf vielen Ebenen zu beleben. „Etwa 200 unserer Mitglieder sind unter 40 Jahre alt, sie sind ebenso in unsere Aktivitäten eingebunden wie ihre Kinder. Am Sonntag kommen 25 Kinder zum Talmud-Thora-Unterricht. Im Sommer organisieren wir Familiencamps, die höchst beliebt sind.“ Einen eigenen Rabbiner hat die Stadt nicht mehr, aber alle zwei Wochen kommt der aus Haifa gebürtige Rabbi Zwika Kfir aus Bukarest. Von dort bringt man auch das koschere Fleisch.

Anna, eine aparte Mittsechzigerin, kümmert sich nicht nur um das koschere Fleisch, sondern auch um alle anderen Lebensmittel, die hier zur rumänisch-ungarischen Hausmannskost verkocht werden. Die ehemalige OP-Schwester an der Kinderchirurgie in Temeswar bessert sich hier ihre karge Pension auf. Modisch und schick gekleidet, weist sie stolz auf ihre ausländischen Kontakte hin: „Meine Tochter lebt und arbeitet in Rom, und meinen Sohn, der IT-Ingenieur in Stuttgart ist, besuche ich nächste Woche, und dann fahren wir alle nach Südtirol zum Schifahren.“ Annas Kinder sind ein typisches Beispiel für die Abwanderung gut ausgebildeter junger Leute trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs der Stadt. „Auch wenn man mit beruflicher Qualifikation adäquat gut verdienen kann, fehlt noch jene den Wohlstand markierende Infrastruktur, um das Geld auf westlichem Niveau genießen zu können“, erläutert der Unternehmer Bardeau.

Die derzeitige jüdische Bevölkerung leidet nicht an diesem Luxusproblem: „Ohne Hilfe durch den Joint (JDC) könnten wir unsere Infrastruktur nicht aufrecht erhalten. Insbesondere die Claims Conference ist eminent wichtig, um wenigstens die bescheidenen Bedürfnisse der Schoah-Überlebenden abzusichern“, weiß auch die umtriebige Präsidentin, die sich bereits jetzt Sorgen macht, wie sie der nächsten Generation mit den minimalen Pensionen helfen wird können. Unter der Woche und am Schabbat finden die Gottesdienste – bei denen nicht immer ein Minjan zustande kommt – auch im Haus der Gemeinde statt. Denn von den ehemals sechs Synagogen in Temeswar bestehen heute nur noch drei: die im maurischen Stil erbaute Synagoge im Herzen der Stadt mit 3.000 Plätzen; die Synagoge in der Fabrikstadt und jene in der Josefstadt, die einzige, die noch in Betrieb ist. „Zu den Feiertagen kommen etwa 50 Leute hierher“, erzählt Friedmann, die sich freut, dass im prognostizierten Budget für die Kulturhauptstadt 2021 auch die Instandsetzung der zwei anderen Gotteshäuser vorgesehen ist.

„Auch mein Vater wurde 1941 in ein Zwangsarbeitslager verbracht. Über die schlimme Lage in der Stadt nach dem Eintritt Rumäniens auf der Seite Nazi-Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg hat mir meine Familie viel erzählt. Die meisten Juden wurden zwar nicht deportiert, aber diskriminiert, bespuckt und geschlagen“, erzählt Friedmann. Am 4. August 1941 wurde die überwiegende Zahl der männlichen Juden zwischen 18 und 50 Jahren in Zwangsarbeitslager verbracht. Nach Bittgesuchen der jüdischen Gemeinde wurden einige entlassen oder kamen zumindest in der Umgebung der Stadt zum Arbeitseinsatz.

Während 1920 die Zahl der Juden 8.307 betrug, stieg diese im Juli 1941 bereits auf 11.788: Durch die Deportation vieler Juden aus ländlichen Gebieten flohen jüdische Menschen nach Temeswar, ab 1943 kam noch eine Flüchtlingswelle aus Ungarn dazu. Bereits im August 1942 gab der rumänische Diktator Marschall Ion Antonescu seine Einwilligung zu den Deportationen von Juden aus Arad, Timișoara und Turda. 2.833 Personen wurden darauf bis 1943 aus Timișoara verschleppt. 1947 lebten etwa 13.600 Juden in der Stadt, der Großteil wanderte nach Israel aus – oder wurde dem rumänischen Staat in der kommunistischen Ära abgekauft.

„Zu Purim hatten wir ein tolles Programm, das die Kinder gestaltet haben. Unser Chor war dabei, und alle Generationen machten bei den israelischen Tänzen mit“, berichtet Luciana Friedmann. Auch wenn Rabbi Kfir zu Pessach nicht kommen kann, freut sie sich schon auf die beiden Sederabende, zu denen rund 250 Personen erwartet werden. Für das jüdische Leben in der Stadt, in der am 15. Dezember 1989 die rumänische Revolution gegen den Diktator Nicolae Ceaușescu begann, sorgt jetzt eine junge dynamische Persönlichkeit. Sowohl Andreas Bardeau als auch Corneliu Murgu kennen und schätzen sie. Vielleicht kann die ehemals ethnisch bunte Stadt zu ihrer Größe und Vielfalt zurückfinden, weil ein steirischer Unternehmer von „unserem“ Rabbi spricht, der Operndirektor ohne jüdische Besucher schlecht aussehen würde und mit Luciana Friedmann eine starke Frau die Gemeinde führt.

Kaiserliches Temeswar Timişoara (rumänisch)/ Temesvár (ungarisch), das nach den Türkenkriegen und der Eroberung des Banats im Jahre 1718 durch das Kaiserreich Österreich zur Festungs- und Garnisonsstadt ausgebaut wurde, blieb in den folgenden zwei Jahrhunderten unter österreichischer und ungarischer Herrschaft. Ab Mitte des 19. Jahrhundert kam es zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte, wozu der Bau der Eisenbahn und die Kanalisierung des Bega-Flusses wesentlich beigetragen haben. Am 12. November 1884 wird Temeswar die erste Stadt in Europa mit elektrischer Straßenbeleuchtung.
Neben der deutschen und ungarischen Mehrheit und neben den Rumänen gab es auch einen hohen serbischen Bevölkerungsanteil. Erst seit dem Friedensvertrag von Trianon 1920 gehört die Stadt zu Rumänien. Die ethnische Zusammensetzung der Stadtbevölkerung änderte sich wegen der wechselnden Staatszugehörigkeit häufig: Bis 1944 stellten die Deutschen die größte Bevölkerungsgruppe, heute wird Temeswar überwiegend von Rumänen (85,52 %) bewohnt.

Bilder: © Reinhard Engel

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