„Ich sehe keine Möglichkeit, den Gazastreifen wieder in bewohnbares Gebiet zu verwandeln”

In Zusammenhang mit dem Tunnelsystem spricht Geologe Joel Roskin vom „komplexesten Schlachtfeld, das es je gegeben hat“ und führt aus, für welche Umweltkatastrophe die Hamas verantwortlich sei.

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Geologe Joel Raskin
Der Geologe Joel Roskin ist außerordentlicher Professor an der Bar-Ilan-Universität. (c) Daniel Shaked

Joel Roskin ist außerordentlicher Professor in der Abteilung für Umwelt, Planung und Nachhaltigkeit an der Bar-Ilan-Universität und hat sich im Rahmen seiner Forschung intensiv mit dem Tunnelbau in Gaza befasst. Wi trafen ihn Ende Juni in Wien, nachdem er auch im Jüdischen Institut für Erwachsenenbildung einen Vortrag zu diesem Thema hielt und dabei wichtige Hintergrundinformationen zu den aktuellen Diskussionen lieferte.

 

WINA: Wie kam es zu der Idee, Gaza zu untertunneln?

Joel Roskin: Tunnel gibt es schon seit tausenden von Jahren und sie tauchen in fast jeder Gesellschaft aus den unterschiedlichsten Gründen auf. Sie werden beim Abbau von Rohstoffen wie Kohle oder Edelsteine genutzt. Sie werden aber auch zu militärischen Zwecken eingesetzt. Selbst König David soll einen Tunnel graben lassen haben, als er vor 3.000 Jahren die Stadt Jebus, das spätere Jerusalem, einnahm.

In Gaza gibt es zwei Besonderheiten: das ist auf der einen Seite eine lange Tradition im Bereich der Keramikproduktion. Es gibt in dem Gebiet Tonvorkommen, die schon in der Antike genutzt wurden. Werkstätten wurden dafür oft unterirdisch angelegt, wo man besser arbeiten konnte, als in der Sonne. Da gab es schon vor 5.000 Jahren eine kleine unterirdische Infrastruktur zur Produktion von Keramik.

Auf der anderen Seite werden in Gaza traditionell viele Brunnen gegraben, weil es keine Wasserquellen an der Oberfläche gibt. Wasser gibt es fast nur unterirdisch. Schon im Buch Genesis erfahren wir, dass Itzhak einen Brunnen entlang des Baches Nahal Gerar grub. Der üppige Gazastreifen fußt also ausschließlich auf Brunnen. Daher ist es auch Tradition, dass der Vater einen Brunnen für den Sohn gräbt und jeder Haushalt über einen Brunnen verfügt.

Es gibt also Know-how, was das unterirdische Bauen betrifft. Wo liegen aber die Anfänge des heutigen massiven Tunnelnetzes unter Gaza?
I Rafah ist seit 1949 geteilt, dadurch wurden auch Familien auseinander gerissen. Der Grenzverkehr war zunächst aber locker. Nach dem Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten 1979 wurde der Grenzverkehr jedoch stark reguliert, die Familien wollten einander aber weiterhin treffen. Sie hatten ja Erfahrung im Brunnenbau und wussten, wie man Löcher gräbt. Der Abstand zwischen dem israelischen und dem ägyptischen Teil Rafahs betrug nur wenige Meter. Als Grenzbefestigung über der Erde gab es einen kleinen Zaun.

Unterirdisch schuf man hier Verbindungen, in denen man zwischen den Familien auch Güter austauschte, wie etwa Lebensmittel. Mit der Zeit waren es aber auch Drogen, Zigaretten und Waffen. Dabei ging es noch gar nicht um Krieg – es gehört in der arabischen Kultur dazu, als Mann eine Waffe zu tragen. Beduinen tragen zum Beispiel alle einen Dolch. Das waren aber noch sehr kleine Tunnel, die eigentlich nur mit Luft gefüllte Hohlräume waren.

Gaza, mit Tunnelsystem im Untergrund. Original-Skizze von Joel Roskin

Wie ging das dann weiter?
I 1990 sah ich dazu den ersten Bericht des israelischen geophysikalischen Dienstes – ab den späten 1980er Jahren versuchte man, die Tunnels zu finden. Das war aber sehr schwierig, die Schächte gingen durch verschiedene Sedimente und Böden, darunter Sandböden und Lehmböden. Es ist bis heute sehr schwer, die Tunnel mit technischen Maßnahmen zu finden. Was ich als Geologe auch sagen muss: die Brunnenbauer kennen die Geologie, besser als wir Wissenschafter. Und: immer mehr Menschen wurden hier beschäftigt. Es gibt inzwischen eine Heerschar an Fachleuten für das Graben von Tunnel. 2007, nachdem Israel den Gazastreifen geräumt hatte, waren mindestens 15.000 Leute im Tunnelbau beschäftigt. Damals entstanden hunderte von Tunnels. In Israel hat man die Dimension leider zu spät verstanden: Der Untergrund ist unsichtbar und wir leben nicht in Tunnel, wir leben nicht im Untergrund. Dort ist es beengt, es ist dunkel. Wir gehen unter die Erde, wenn wir sterben.

Werden die Tunnel in Gaza denn auch als Wohnraum genutzt?
I Nein, das nicht. Zunächst dienten sie zum Schmuggeln, zuerst für Waren, später auch für Waffen. Dann haben sie sie in Angriffstunnel umfunktioniert, noch vor dem Rückzug Israels aus Gaza. Das hat der Armee damals wirklich Angst gemacht, weil man nie wusste, wo etwas in die Luft ging. Deshalb fingen die Soldaten an, Geräusche zu hören. Das wurde ein Teil der psychologischen Kriegsführung. Es wurden Armeestützpunkte evakuiert, weil Geräusche zu hören waren.

Wann ist die israelische Armee zum ersten Mal auf Tunnel aufmerksam geworden?
I Sie wusste seit den 1980er Jahren von den Tunneln. 1994 kam Jassir Arafat nach Gaza, um die Palästinensische Autonomiebehörde zu führen. Der Tunnelbau nahm zu – und jede geopolitische Veränderung führte auch zu neuen Beweisen für die Existenz der Tunnel. 2000 begann die Zweite Intifada, die Tempelberg-Intifada. Damals wurden viele Waffen nach Gaza geschmuggelt, was zu massiven Razzien in Häusern in Gaza führte. Damals zerstörte die israelische Armee deshalb hunderte Häuser, doch dann kam der Druck von außen, vor allem von den Vereinten Nationen, damit aufzuhören. Damit wurde das Vorgehen gegen die Tunnel wieder weitgehend eingestellt.

Um das Jahr 2000 waren die Tunnel, die man fand, übrigens bereits bis zu acht Meter tief. Zuvor reichten sie bis zu sechs Meter unter die Erde. 2005 war der tiefste Punkt 30 Meter. Im Krieg von 2014 entdeckten wir noch tiefere. Im aktuellen Krieg hat die Armee Tunnel gefunden, die bis zu 70 Meter tief waren.

Wie hoch und breit sind die Tunnel?
I Die meisten Tunnel sind mit Zement ausgekleidet und etwa einen Meter breit, sodass zwei Männer mit Ausrüstung hin- und hergehen können. Die Höhe beträgt um die 1,80 Meter. Und es gibt verschiedene Ebenen von Tunneln. Wobei das Wort Tunnel ist hier fast schon ein einschränkender Begriff, denn eigentlich sprechen wir von einem riesigen unterirdischen Komplex aus Räumen, die wie Käfige gestaltet sind, aus Kontrollräumen, Küchen, Bäder, verschiedenen Schächten, Orten, von denen aus geschossen wird. Es ist ein riesiger Komplex für die militärische Kriegsführung, der unter Wohngebiet gelegt wurde.

Medienberichte sprachen von bis zur drei Stockwerken, die da unter der Erde errichtet wurden. Können Sie das bestätigen?
I Ja.

Und wozu meinte die Hamas, drei Ebenen an Tunneln zu benötigen?
I Man ist im Untergrund versteckt und geschützt, deshalb hat die Hamas alle Aktivitäten in den Untergrund verlagert. Und wenn man sich unter städtischen Gebieten befindet, hat man ein Schlachtfeld, das beispiellos ist. So etwas hat es in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben. Man hat das komplexeste Schlachtfeld, das es je gegeben hat. Die Ergebnisse sind entsprechend. Wie soll man damit umgehen? Für die israelische Armee bedeutet das: sie muss die Oberfläche säubern, um an den Untergrund heranzukommen.

Ist der gesamte Gazastreifen untertunnelt oder gibt es auch Gebiete, die verschont blieben?
I Von der Geologie her war Rafah ideal für den Tunnelbau. Der Boden besteht aus lockeren Sedimenten wie Sand und Lehm. In anderen Arealen ist es schwieriger, weil es zum Beispiel hartes Gestein gibt. Mit der Zeit wuchs aber das Fachwissen und inzwischen können sie in jeder Geologie einen Tunnel graben. Es ist dann nur eine Frage, wieviel Energie und Ressourcen man investiert. Je tiefer es geht, desto teurer wird es. Je härter das Gestein, desto teurer wird es. Es ist mehr Arbeit, man braucht mehr Spezialmaschinen. Sie können aber inzwischen alles: Tunnel in losem Sand bauen und sie stabilisieren, sie errichten sogar Tunnel, die bis unter das Grundwasser reichen. Sie haben Tunnel, von denen ihre Seekommandos direkt ins Meer schwimmen, ohne entdeckt zu werden. Am 7. Oktober 2023 kam es so zu einem Angriff am Strand von Zikim, dabei wurden 17 Menschen ermordet.

Es ist also der ganze Gazastreifen untertunnelt.
I Ja. Es gibt aber natürlich Gebiete, die dichter untertunnelt sind als andere.

Sie haben erwähnt, dass die Tunnel mit Zement ausgekleidet sind. Woher kommt das Baumaterial dafür?
I Es gibt diese Falschmeldungen, wonach es eine Blockade von Lieferungen von Israel nach Gaza gab. Das stimmte ja aber nicht. Eingeschränkt wurde die Einfuhr von Gütern, mit denen man Waffen herstellen kann. Aber alles, was für den zivilen Gebrauch benötigt wird, wurde hineingelassen. So bekamen sie enorme Mengen an Zement, die über Israel nach Gaza gelangten. Sie haben übrigens den hochwertigen Zement für den Tunnelbau und den minderwertigen für den Bau der Häuser verwendet. Teilweise haben sie die Säcke sogar umgepackt, und den Bauunternehmern den minderwertigen als den hochqualitativen Zement verkauft. Sie haben also die Bauunternehmen betrogen und das ist auch der Grund, warum nun Gebäude während des Krieges so leicht einstürzen.

Und wie wirken sich die Tunnel auf die Sicherheit der Gebäude aus?
I Das ist eine der schrecklichen Konsequenzen dieser Kriegsführung: nehmen wir an, es gibt ein Gebäude, das nicht getroffen und nicht beschädigt wurde, aber es gibt einen Tunnel darunter. Selbst wenn der darunterliegende Tunnel nicht zerstört wurde, aber ein Tunnelsegment in der Nähe explodiert ist, können die Explosionseinwirkungen den Untergrund unter dem Gebäude beeinträchtigen. Der Boden wird instabil. Der Untergrund hat also auch das Potenzial, das Leben an der Oberfläche zu zerstören. Wir haben es also auch mit einer Umweltkatastrophe ungeheuren Ausmaßes zu tun.

Ich sehe daher auch keine Möglichkeit, den Gazastreifen wieder in bewohnbares Gebiet zu verwandeln. Das würde enorme Investitionen brauchen. Es müsste der ganze Schutt abtransportiert werden, es müssten alle Gebäude, die nicht stabil sind, abgerissen werden – und das ist der Großteil der Bauten in Gaza. Es müsste aber auch das durch die Munition verseuchte Grundwasser gereinigt werden. Wer wird all dieses Geld investieren?

Wenn also im Westen davon gesprochen wird, dass Gaza wieder aufgebaut werden muss, müsste man dem entgegen halten: mit den Tunnel darunter ist kein Wiederaufbau über der Erde möglich. Kann man die Tunnel mit Zement füllen?
I
Dafür würde es riesige Mengen an Zement brauchen. Dazu kommt, dass die Tunnel mit enormen Mengen an Sprengstoff gefüllt sind. Aber selbst, wenn die Tunnel nun zerstört werden, wird die Hamas neue bauen. Sie bauen auch jetzt immer noch neue Tunnel. Die Tunnel haben ihnen ermöglicht, dass dieser Krieg nun schon bereits fast zwei Jahre dauert, dass sie weiter Geiseln festhalten.

Der Tunnelbau wurde aber auch zur Kultur und dem Stolz der Hamas und identitätsbildend im ganzen Gazastreifen. Als 2016 bei Tunnelunglücken mehrere Arbeiter starben, kamen zehntausende Menschen zum Begräbnis. Dutzende Kinder wurden im Tunnelbau eingesetzt und kamen dabei zu Tod. Hochzeitspaare lassen sich in einem Tunnel fotografieren. Sommerlager werden in den Tunneln abgehalten. Die Menschen verbringen viel Zeit unter der Erde.

Sie haben geschildert, dass das Tunnelsystem nun auch in eine Umweltkatastrophe gemündet ist und ein Wiederaufbau Gazas nahezu unmöglich ist. Was bedeutet das für die Zukunft der Bevölkerung in Gaza?
I Ich sehe keine erfreuliche Zukunft. Ich hab das auch schon in einem Kommentar geschrieben: Es gibt am nordöstlichen Sinai ein leeres, relativ unberührtes Gebiet. Dort könnte man Städte bauen. Dem wird Ägypten aber nicht zustimmen.

Man könnte also sagen: die Hamas hat das Land und den Boden der eigenen Bevölkerung zerstört.
I Ja.

Gibt es Hinweise, dass sich die Hamas der Konsequenzen ihres Handelns bewusst war?
I In der israelischen Armee sagt man immer: wenn man einen Krieg beginnt, weiß man nie, wie er enden wird. Das ist das Grundverständnis in Israel. Das ist, denke ich, auch einer der Gründe, warum Premier Benjamin Netanjahu immer zögerlich war, Kriege zu beginnen. Er wusste, dass man nie weiß, wie er enden wird, worauf man sich einlässt, wer involviert sein wird, und dass es, selbst, wenn man eine gute Chance hat, erfolgreich zu sein, es immer Überraschungen gibt.

Yahya Sinwar Hypothese war aber offenbar, dass die Hisbollah sich ihm anschließen würde und man dann gemeinsam gegen Israel vorgeht.

Die Hamas ging also wirklich davon aus, in der Lage zu sein, Israel zu erobern, die Juden zu vertreiben und das Land zu übernehmen, sodass egal schien, was mit Gaza passiert?
I Ja, sie hatten Pläne, zu allen Luftwaffenstützpunkten zu gelangen und sie hatten sogar ein paar Trupps, die sehr nahe an Luftwaffenstützpunkte herankamen. Und wenn sie zu diesen vorgedrungen wären und sie neutralisiert hätten, hätte die Hisbollah sicher angegriffen. Es gibt ja Stimmen, die meinen, sie sind deshalb nicht zu den Stützpunkten vorgedrungen, weil sie so sehr mit Morden beim Nova Festival und in den Kibbuzim beschäftigt waren. Das hat der israelischen Armee die Zeit gegeben, sie zu erwischen.

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