Den Überlebenden zuhören, weil die Zeit abläuft

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© apa picturedesk/ Vukovits Martin
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Über KZ-Besuche, Schiwa-Eindrücke und ungarische Propaganda sprach Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann mit
Marta S. Halpert


wina: Sehen Sie sich als politischen Menschen? Ich beziehe mich auf Ihr Engagement für Themen, die sich mit der so genannten „Vergangenheitsbewältigung“ beschäftigen. Dazu gehört die Veranstaltung heuer zum 12. März 1938 ebenso wie das Projekt „Die letzten Zeugen“ aus Anlass des 75. Jahrestags des Novemberpogroms, das Sie gemeinsam mit Doron Rabinovici realisieren.

Matthias Hartmann: Ich hätte sicher nichts mit Politik zu tun, wenn diese mich in Ruhe ließe. Erstens lassen mich die Zustände nicht in Ruhe, weil sie mich aufregen in der Art und Weise, wie sie sich in der politischen Realität darstellen. Und zweitens muss ein Theater dieser Größe, dem das Publikum auch eine gewisse Verantwortung zugesteht, diese Verantwortung auch annehmen und tragen. Das ist jene Verantwortung, die mich als Direktor, aber auch uns als Team betrifft, nämlich auf gesellschaftliche Verhältnisse zu reagieren. Das ist ja schon fast Tradition in Wien. Aber wir haben das auch in Bochum gemacht: Als es um die Schließung des Opel-Werks ging, waren wir auch auf der Straße und haben die Arbeiter unterstützt. Man muss sich ja nur engagieren, wenn die Verhältnisse so sind, dass man reagieren muss. Sonst sind die Menschen zufrieden, wenn sie sich in der Küche treffen und übers gute Essen reden können.

„Ich hätte sicher nichts mit Politik zu tun, wenn diese mich in Ruhe ließe.“

wina: Provoziert Sie Österreich etwas mehr zu diesen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten?

MH: Ja, und es überrascht mich immer wieder. Rudolf Gelbard, der auch in unserem Programm Die letzten Zeugen aus seinem Leben erzählen wird, hat mir das Buch von Hans-Hennig Scharsach Strache: Im braunen Sumpf mitgebracht. Und das Verblüffendste daran, finde ich, ist, dass nicht einmal jemand versucht, diesem Buch zu widersprechen. Strache selbst klagt nicht dagegen, weil er keine Chance hätte, die Dinge liegen offenkundig und sehr klar auf dem Tisch. Ich glaube, das wäre in Deutschland nicht möglich. Wir operieren da schon seit Jahrzehnten an einem NDP-Verbot und kommen mit unserer Demokratie ständig ins Hadern über dieses Thema.

wina: War die NS-Zeit ein Thema in Ihrem Elternhaus? Wurden Sie dort immunisiert?

MH: Meine Eltern haben großen Wert darauf gelegt, dass wir sehr gut aufgeklärt wurden. Wir sind auch schon früher am Weg in den Sommerurlaub von der Straße abgefahren und haben KZ-Besuche gemacht. Meiner Mutter war unsere Aufklärung ein großes Anliegen und meinem Vater auch. Dadurch waren uns die Schrecken und Grauen des Holocaust schon als Kinder gewärtig. Später, als ich in Zürich Direktor war, starb die Mutter eines guten Freundes und ich hatte die Ehre, ihn zu trösten. Und er erzählte mir die Geschichte seiner Mutter, wie sie sich als junges, abgemagertes Mädchen im Warschauer Ghetto zwischen die Leichen der anderen Kinder gelegt hatte und so herausgebracht wurde. So ist ihr die Flucht gelungen. Das hat mich sehr beschäftigt, auch dass wir beide nicht mehr mit ihr darüber reden konnten. Das war so eine exemplarische, große Geschichte: Denn überleben konnte man dieses systematische Töten nur mit ganz kreativen Ideen oder mit viel Glück. Anders konnte man dem nicht entkommen. Ich hätte so gerne mit ihr geredet, aber sie war nicht mehr da. Und so wurde mir das langsame Verschwinden der Kronzeugen dieser Zeit plötzlich offenkundig. Ich arbeite ja auf den Brettern, die die Welt bedeuten, auf der Bühne, und sah plötzlich, dass die Welt entvölkert wird von Menschen, die noch etwas sagen könnten, denen man noch zuhören – und vor allem auch Fragen stellen könnte. Deshalb möchte ich das jetzt auf der Bühne zeigen, ritualisieren, offen legen, dieses Verschwinden.

wina: Bei Ihrem Gespräch mit Otto Schenk auf der Bühne des Burgtheaters im März 2013 schien manches ein wenig aus dem Ruder zu laufen. Einzelne Aussagen des großen Theatermannes Schenk erweckten den Eindruck, als wäre die NS-Zeit in Wien ein Spaziergang mit jüdischen Witzen gewesen. Haben Sie das auch so empfunden?

MH: Ich würde jetzt nie etwas gegen meinen Freund Otto Schenk sagen wollen, den ich sehr respektiere und auch weiß, dass er und seine Familie große Opfer haben bringen müssen. Das mögen Sie an diesem Tag so empfunden haben. Otto Schenk ist sicher jemand, der manchmal auch das Originelle aufsucht. Und dass er, der den kalten Hauch des Grauens gespürt hat, sagt, dass ihn die Kunst getröstet hat, sogar wenn sie von Nazis kam, das finde ich schon fast mutig. Die Mutter meines Freundes, die gestorben war, hat zeitlebens nicht mehr Deutsch gesprochen. Ihr Sohn durfte als Kind keine deutschen Freunde nach Hause bringen. Es gibt auch das komplette Gegenteil, also die totale Traumatisierung. Wenn Otto Schenk die Musik und die Kunst insgesamt geholfen haben, dieses Trauma zu verarbeiten, dann ist es seine Art und Weise. Etwas missverständlich war es vielleicht schon. Aber er hat meinen ganzen Respekt.

wina: Sie bringen nicht nur Zeitzeugen wie Marko Feingold, Rudolf Gelbard, Lucia Heilmann, Susanne-Lucienne Rabinovici und Ari Rath auf die Bühne, sondern auch großartige Vertreter des Burg-Ensembles, wie Dörte Lyssewski, Peter Knaack, Daniel Sträßer und Mavie Hörbiger. Dachten Sie bei dem Projekt immer noch an den Freund in Zürich?

© Reinhard Maximilian Werner
Inszenierung. „Wie macht man das auf einer Bühne?“ Burg-Chef Matthias Hartmann über die sensible Gratwanderung beim Projekt
„Die letzten Zeugen“
© Reinhard Maximilian Werner

MH: Ja, denn die Initialzündung gab diese Trauerwoche. Ich besuchte mehrfach während der Schiwa meinen Freund, und ich war sehr beeindruckt: einerseits von der Nonchalance und andererseits von der ritualisierten Art, die einen auffängt und hilft, die Trauer zu verarbeiten. Und da habe ich schon die Idee gehabt, so etwas zu machen. Wobei doch der Gedanke kam: Wie macht man das auf einer Bühne? Kann man für diese Menschen sprechen? Sie sind ja keine Schauspieler. Wie geht man damit um? Aber ich habe mich in Wahrheit als nicht-jüdischer Mensch nicht getraut, in die Sache tiefer einzusteigen. Ich hatte aber immer diese Vorstellung davon, und erst als ich Doron Rabinovici traf und ihm davon erzählte, wurde es konkreter. Denn ich wusste auch, dass wir nicht mehr viel Zeit haben; die Zeit ist abgelaufen, man kann nicht länger zuwarten. Ceijka Stojka, die Autorin und Malerin, ist schon tot. Trotzdem räumen wir ihr einen Platz auf der Bühne ein, als würde sie leben. Rudolf Gelbard und Ari Rath sind Menschen, bei denen man versteht, warum sie sprechen wollen und können, es sind mutige, zornige Streiter und Kämpfer – und vor allem Überlebende.

wina: Ist die Arbeit an diesem Projekt schwierig?

MH: Ja, schon, es ist eine ständige Gratwanderung: Es gab Bilder, die ich nicht verwenden konnte, weil sie zu voyeuristisch sind, andere Sachen waren dann zu nah am Entertainment, das ging auch nicht. Es ist ein schwieriger Drahtseilakt, wie man die Sachen erzählt, damit es erträglich bleibt und doch nicht zu gefällig wird. Manchmal, wenn ich nicht weiter weiß, hole ich Doron dazu oder frage Freunde von mir.

Ich habe auch im Moment so ein merkwürdiges Unbehagen, weil wir das auf der Bühne natürlich nicht alles annähernd erzählen können. Wir werden dem allen nicht gerecht, es ist ja nur ein Theaterabend, der höchstens das Bewusstsein schärft, dass diese Bühne sich entvölkert und wir jetzt noch eine Chance haben, einen Blick darauf zu werfen, und die Menschen dazu anhalten, sich immer wieder lebendig damit zu beschäftigen.

wina: Sie haben Ihre Stimme auch lautstark zur Situation der Kunst und der Künstler in Ungarn erhoben. Auf Ihre Ini­tiative hin haben Elfriede Jelinek, Peter Turrini, Michael Haneke u. a. einen offenen Brief an den ungarischen Kulturminister Zoltán Balog gesandt. Sie haben auch den Minister in Ungarn getroffen und das in einem „Spiegel“-Essay sehr pointiert und kritisch beschrieben. Zusätzlich hat das Wiener Burgtheater die Einladung des Budapester Nationaltheaters, im Frühjahr 2014 bei dessen 1. Internationalen Festival ein Gastspiel zu geben, ausgeschlagen. In der Begründung heißt es, „der gute Ruf des Burgtheaters soll nicht benützt werden, um den beschädigten Ruf der ungarischen Kulturpolitik zu reparieren.“ Was macht Sie so wütend?

MH: Unsere Absage konnten wir sehr gut begründen. Wir haben festgestellt, dass die Public-Relation-Maschine des Herrn Balog derartig gut geschmiert funktioniert, dass alles, was wir sagen und tun, sofort gewendet und verdreht wird. Das Komplizierte an Ungarn ist, dass sie eine Sprache sprechen, die sonst niemand versteht, und deshalb können sie wahnsinnig zweigesichtig sprechen. Sie sagen etwas und behaupten dann, es nie gesagt zu haben, weil man zuerst einen Übersetzer braucht, um es erklärt zu bekommen. Daher sagen sie etwas anderes nach innen als nach außen.

wina: Sie haben also abgesagt, um nicht missbraucht zu werden?

MH: Ja, weil ich weiß, dass es sofort zu Propagandazwecken benützt wird. Sie haben Ihren Ruf international so ruiniert – und zwar zurecht –, dass sie sagen würden, „schaut mal, das ist ja alles nicht so schlimm, wie es behauptet wird, denn es kommt sogar das Burgtheater zu uns.“ Das wollen wir nicht machen, ganz im Gegenteil, wir arbeiten jetzt an einem ungarischen Theaterfestival, das wir im Frühjahr 2014 hier machen wollen. Wir laden dazu verschiedenste Gruppen ein und sind jetzt gerade in finanziellen Verhandlungen, ob wir das stemmen können oder ob wir einen Sponsor dafür brauchen. Wir können ja auch Herrn Balog gerne fragen, ob er das mitfinanzieren möchte, denn das sind Gruppen, die von ihm nicht so viel Geld bekommen. Ich finde, das sollten wir wenigstens machen.

wina: Woher kommt dieses Interesse an Ungarn?

MH: Als das Burgtheater vor 125 Jahren gegründet wurde, war das alles ein Reich, eine gemeinsame Sache. Seit ich hier bin, denke ich ganz anders über das Leben, die Menschen und die Kultur nach. Und seit der Öffnung des Ostens ist nicht mehr Paris die Mitte der Welt, sondern Wien, das ist ja das Interessante. Man muss den Osten mitdenken; und dass da ein Staat mit faschistischen Tendenzen mitten in Europa entsteht und sich im Europaparlament die Frau Merkel und der Herr Orbán treffen und auch noch zu einer Partei gehören, das hat mich schon sehr interessiert.

„Seit ich hier bin, denke ich ganz anders über das Leben, die Menschen und die Kultur nach.“

wina: Wie viel Geschichte und welches Geschichtsbild vermitteln Sie Ihren Kindern?

MH: Meine Kinder sind sechs, acht und zehn, aber meine Älteste weiß schon einiges. Ich fange jetzt behutsam mit Kinderbüchern an. Ich war gerade in Los Angeles im Holocaust-Museum und habe sie im Wohnmobil draußen gelassen. Ich habe sie nicht hineingenommen, das habe ich nicht geschafft.

wina: Die Aufführung mit den Zeitzeugen des Novemberpogroms 1938 steht im Programmheft auch unter dem Titel „Es ist nicht vorbei“. Empfinden Sie das
auch so?

MH: Ja, diese Tendenzen werden immer wieder wach. Das Problem ist, dass wir in einem ständigen Dilemma sind, was Politik anbelangt in unserer Zeit. Und das Dilemma heißt, dass die Politiker immer mehr versprechen müssen, was sie nicht halten können – und das geht durch alle Parteien. Das heißt, die Politikverdrossenheit wird zwangsläufig steigen, weil die Kluft immer größer wird – und das ist die Stunde der Populisten. Es ist ja irre, dass in diesem Land jemand, der überhaupt nichts Positives verbreitet, sondern nur nörgelt, trotzdem 22 Prozent der Stimmen kriegt, das hat mich schon sehr überrascht. Jemand, der keinen konstruktiven Vorschlag macht und nichts zu sagen hat.

Zur Person
Matthias Hartmann, geboren 1963 in Osnabrück, arbeitete ab den frühen Neunzigerjahren als freier Regisseur, u. a. am Niedersächsischen Staatstheater Hannover, am Stadttheater Kiel, am Staatsschauspiel München und am Burgtheater. Von 2000 bis 2005 war er Intendant des Schauspielhauses Bochum, ab der Spielzeit 2005/06 Intendant des Schauspielhauses Zürich. Seit 2009 ist Hartmann Intendant des Wiener Burgtheaters.

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