Verdrängter Geist und Geist der Verdrängung

Die schicksalhaften Märztage umkreist der deutsche Autor und Literaturwissenschaftler Manfred Flügge in seinem Zeitpanorama Stadt ohne Seele. Wien 1938.

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Gerade dem besten Kenner menschlicher Psyche ist diese fatale Fehleinschätzung unterlaufen. Und gerade Sigmund Freud verdrängte, was sich offensichtlich vor seinem Fenster in der Berggasse 19 zeigte, glaubte fast bis zum bitteren Ende an den Widerstand der katholischen Kirche und an Kurt Schuschnigg, „ein anständiger, mutiger und charaktervoller Mensch“. In Kanzler Schuschniggs Charakter hatte er sich vielleicht nicht gänzlich getäuscht, dessen Macht aber überschätzt, die Kirche in ihrem Verhältnis zum Nationalsozialismus hingegen hat er völlig falsch gesehen.

Nicht zufällig kommt also Sigmund Freud in Flügges romanhaftem Zeitbild eine besondere Rolle zu. Geht es darin doch auch um schicksalhafte Fehleinschätzungen von Politikern, die geradewegs in die Katastrophe des „Anschlusses“ und seiner Folgen führten. Allen voran der „anständige“ Schuschnigg, der letztlich vor Hitlers brutaler Macht die Waffen strecken musste, bevor er sie noch ausgepackt hatte, denn Österreich fiel dem Führer ja bekanntlich kampflos in die Hände.

Im Rückblick fügt sich vieles wie ein beängstigend perfektes Puzzle zusammen, in diesen nur wettermäßig sonnigen Märztagen, an denen nachts das seltene Phänomen eines Nordlichts den Wiener Himmel erhellte, rückblickend auch das ein Unheil verkündender Vorbote.

Flügge gelingt es trotz des bekannten tragischen Ausgangs, diese sich überstürzenden Ereignisse dennoch so „spannend“ zu erzählen, dass man sich ihrer Dramatik kaum entziehen kann. Sein Hybrid von Geschichtsstudie und Roman krankt aber stellenweise gerade an diesem Zwitterwesen, in dem er gern auch sein höchst persönliches Glaubens- bzw. Unglaubensbekenntnis einfließen lässt. Wenn er in Zusammenhang mit Kardinal Innitzer meint, „Gott, wenn es ihn denn gibt, kümmert sich nicht um menschliche Angelegenheiten, um Staatsdinge schon gar nicht“, so passt eine solche Aussage nicht wirklich in ein seriöses Buch.

„Unser Pöbel ist ein Stück weniger brutal
als der stammesverwandte deutsche.“
Sigmund Freud

Stadt ohne Juden. Seriös und Respekt gebietend fundiert sind hingegen Flügges überaus zahlreichen Porträts der Geistesgrößen dieser für Goebbels „großen Zeit“. Fast durchwegs Juden, waren sie die Seele dieser Stadt, nach deren Vertreibung und Ermordung Wien seelenlos zurückblieb. „Es fehlten einfach die Juden“, hat der Emigrant Karl Frucht bei seiner Rückkehr festgestellt.

Manfred Flügge: Stadt ohne Seele.
Wien 1938. Aufbau Verlag,
479 S., € 25,70

Literaten wie Werfel, Musil, Broch, Roth, Zuckmayer, Kabarettisten wie Löhner-Beda und Grünbaum, Künstler, Theaterleute, prominente und unbekanntere, bis hin zum jüngsten in dieser beeindruckenden Reihe, dem Nobelpreisträger Eric Kandel, sind seine Jahrhundertzeugen. Ihre Schicksale, ihre Fluchtgeschichten, ihre Verluste zeichnet Flügge detailreich nach. Als Biograf der Familie Mann oder Marta Feuchtwangers bewegt sich der Autor da auf sicherem, gut ausrecherchiertem Boden. Wiener Lesern, speziell literarisch interessierten, erzählt er dabei oft nicht ganz Neues, aber er erzählt es gut und durchaus lesenswert.

Die Wiener Seele kann der Deutsche aus dem Ruhrgebiet in allen ihren Untiefen dennoch nicht ganz ausloten. Aus der Tatsache, dass im April 1938 das deutsche Hetzblatt Der Stürmer ausgehängt wurde, zieht er den Schluss: „Die Wiener brauchten wohl Nachhilfe in Sachen Antisemitismus.“ Nein, das brauchten sie wahrlich nicht!

Aber es ist wohl Flügges spürbare Bewunderung für Wien, die ihn nicht immer ganz objektiv und zuweilen anfällig für Klischees werden lässt. Konnte sich doch schon Freud wider besseren Wissens und schlechterer Erfahrung der Liebe zu dieser Stadt nicht entziehen. Ganz am Ende gelang ihm wiederum eine Verdrängung. Als sich 1939 in England sein Wiener Anwalt vor seiner Rückreise von ihm verabschiedete, soll er gesagt haben: „Sie gehen also zurück nach – ich komme nicht auf den Namen der Stadt!“ 

 

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