Vivisektion einer Familie

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Bekränzt mit Vorschusslorbeeren betritt eine neue Autorin die literarische Bühne Israels, wo sich bereits viele tummeln. Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, ist Lektorin in dem Verlag, der nun ihren Debütroman in Israel herausgebracht hat, versehen mit Lobeshymnen berühmter Kollegen wie Zeruya Shalev oder Etgar Keret. Von Anita Pollak   

Unerträgliche Hitze liegt am Anfang über Jerusalem. Mit einem Wintersturm mitten im Juli wird diese Woche enden, die ein Paar für sich allein hat, nachdem die beiden Töchter in die Ferien verschickt wurden. Da kündigt sich ein unerwarteter Besuch aus Paris an und löst einen Strom von Erinnerungen aus – an die erste gemeinsame Reise, einen seltsamen Zwischenfall, an den stürmischen Beginn einer Beziehung und was daraus geworden ist. Es ist die Geschichte einer Liebe, die Hila Blum in Rückblenden entfaltet, und die Betrachtung einer Familie, die aus dieser Liebe entstand. Nataniel hat ein altkluges Kind, Dida, mit in die Ehe gebracht, und bald macht die gemeinsame Tochter Asia das Glück Nilis perfekt, aber Idyllen gibt es nicht einmal mehr in Romanen. Doch nach einem tragischen Unfall wird die Kleine den Eltern fast nochmals geschenkt, und das Leben nimmt weiter seinen Lauf.

„Jede Tochter kann jeder Mutter passieren, aber es ist schrecklicher, dass jede Mutter jeder Tochter passieren kann.“

Bedrohliche Gewitterwolke
Hila Blum:  Der Besuch. Aus dem Hebräischen  von Mirjam Pressler. Berlin Verlag 2014, 416 S., € 23,70
Hila Blum: Der Besuch.
Aus dem Hebräischen
von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag 2014,
416 S., € 23,70

Eine demente Mutter im Altersheim, Nilis Berufsalltag als Lektorin im Verlag, Natis lange Dienstreise in die Schweiz, eine psychisch auffällige Schwester, ansonsten geschieht nicht sehr viel, und doch scheint über allem eine bedrohliche Gewitterwolke zu liegen. Mit Israel und seiner gefährdeten Sicherheit hat all das nichts zu tun, das Land ist eine nahezu austauschbare Kulisse für das diskrete Familiendrama, das sich allerorts so oder ähnlich abspielen könnte. Ist Nati treu oder doch nicht, ist Dida ein verschlagenes Biest oder ein hellsichtiges Genie oder beides, ist Asia bei ihrer Tante in Eilat wirklich gut aufgehoben; ja und was geschah eigentlich tatsächlich vor neun Jahren in Paris, warum meldet sich ihr mysteriöser Retter plötzlich, der ihnen damals scheinbar so großzügig aus einer ziemlichen Patsche half?

Fast chirurgisch und mikroskopisch genau seziert Hila Blum das Wesen der Familie, einer modernen Familie, und diese Vivisektion gelingt ihr vortrefflich. Sie entlarvt verborgene Sehnsüchte, kleine Geheimnisse, Zweifel, kleinere und größere Lügen, Kompromisse und Arrangements, die ein Zusammenleben erst ermöglichen. Eine besondere Expertin scheint sie für Mutter-Tochter-Dramen zu sein: „Jede Tochter kann jeder Mutter passieren, denkt Nili, aber es ist schrecklicher, dass jede Mutter jeder Tochter passieren kann.“

Familien spielen in Israel und seiner Literatur eine besondere Rolle, und da muss sich die späte Debütantin schon an einer Autorenelite messen lassen. Vielleicht liegt es aber auch an den hohen Erwartungen, die der vielversprechende Anfangsakkord des Romans weckt, dass dann das Finale etwas enttäuschend ausfällt.

Titelbild: © plainpicture

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