Vom körút nach Mariahilf

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Ivan Roth

Ivan Roth floh mit seinen Eltern 1957 aus Ungarn. Der Branche seiner Vorfahren ist er treu geblieben: In dritter Generation verkauft er Schmuck und Uhren. Text und Fotos: Reinhard Engel

Die Mariahilfer Straße ist immer noch die Wiener Einkaufsstraße Nummer eins.“ Ivan Roth gibt sich überzeugt, eine gute Standortwahl für seine beiden Geschäfte getroffen zu haben. Aber er erklärt auch gleich, dass die Kundschaft hier sehr wohl auf den Preis schaut: „Manchmal kommt jemand in der Früh, lässt sich etwa zeigen und meint dann, es ist doch teuer geworden. Von den steigenden Goldpreisen weiß er halt nichts.“ Doch dann erscheint manch zweifelnder Kunde am selben Tag noch einmal. „Er hat sich bei anderen Anbietern umgeschaut und ist darauf gekommen, dass er bei uns günstiger kauft.“

Verfolgt und enteignet

Roth ist bereits in dritter Generation Schmuck- und Uhrenhändler. Allerdings war der Großvater mütterlicherseits Mitglied des Budapester Diamantenklubs, der andere Großvater stand in seinem eigenen Geschäft an der Ringstraße, auch in Budapest, wo sie Szent István körút heißt. Das war aber noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Roths Vater überlebte diesen und den Holocaust, weil man ihn in einem Blindenheim versteckte. Doch auch seiner jungen Familie sollten keine rosigen Zeiten bevorstehen.

„Aber vor 1956 waren die Grenzen ganz dicht, da haben vielleicht Vögel drüber fliegen können.“

Kurz nachdem Ivan 1948 geboren wurde, verhafteten die Kommunisten seinen Vater. „Er hat von den bevorstehenden Enteignungen erfahren und sein Gold versteckt, aber gesagt, er hat es verkauft.“ Man versuchte, das Versteck aus ihm herauszupressen, nicht nur einmal stand er auf einem Fensterbrett im dritten Stock, und man drohte, ihn hinunterzustoßen. Aber er sagte nichts – und verschwand mehrere Jahre hinter Gittern. Ivan Roth: „Ich habe meinen Vater kennen gelernt, als ich fünf Jahre alt war. Ich habe nicht gewusst, wie ich zu ihm sagen soll: Vater oder Onkel.“ Dieser durfte jedenfalls nicht mehr in seinem Beruf arbeiten und schlug sich als Elektriker durch, es war ihm klar, dass er so bald wie möglich das Land verlassen wollte.

„Aber vor 1956 waren die Grenzen ganz dicht, da haben vielleicht Vögel drüber fliegen können“, so Roth heute. Sein Vater sondierte mehrmals die Lage an der österreichischen Grenze, „aber wegen mir und meiner kleinen Schwester hat er sich dann doch nicht getraut, mit Schleppern hinüberzugehen.“ Erst 1957 gelang es mit Hilfe einer nicht verwandten Familie Roth in Wien, die als Bürge auftrat, ein Besuchervisum für alle vier zu bekommen. Nach der Ankunft am Westbahnhof wohnten die Roths in einem Hotel am Fleischmarkt – bis zum nächsten Aufbruch.

Dieser brachte sie nach Amerika. Der Vater arbeitete in der 47ten Straße im Akkord als Goldschmied in der Massenproduktion. „Er hat Hälften von kleinen Goldkugeln zusammengelötet, und der Firmenbesitzer ist hinter ihm gestanden und hat ihn angetrieben. Das hielt er nicht lange durch.“ Nach nur einem halben Jahr ging es von Jamaica, Queens, wieder zurück nach Wien, in eine Mietwohnung im 9. Bezirk. „Wir Kinder haben gejubelt, wir wollten gerne zurück.“

Roths Vater hatte durch Mittelsmänner einen Teil seiner alten Goldvorräte nach Wien bringen können und verfügte damit über ein kleines Startkapital für ein eigenes Geschäft auf der Wiedner Hauptstraße, neben dem Hotel Triest. Ivan lernte bei einem Goldschmied im 14. Bezirk das Handwerk, und ab der Gesellenprüfung arbeitete er einige Jahre beim Vater. Nach seiner Hochzeit mit Sonja Wachtel, die aus einer polnisch-jüdischen Familie stammte, suchte er sich etwas Eigenes: Er begann bei Metro in der Schmuckabteilung als Verkäufer, innerhalb weniger Jahre hatte er sich zum Einkaufsleiter hinaufgearbeitet.

Boom durch offene Grenzen

Doch auch er wollte nicht für immer Angestellter bleiben. Also machte er sich auf die Suche nach einem eigenen Geschäft. Mit der Abfertigung von Met­ro und Hilfe seines Schwiegervaters eröffnete er 1978 auf der Mariahilfer Straße. Und nach den Anfangsjahren überraschte ihn der unerwartete Boom der offenen Ostgrenzen nach 1989. „Die Ungarn wollten unbedingt Gold kaufen, denn das haben sie vorher nicht gekonnt. Uhren hatten sie selbst auch.“ Mehrere Jahre lang gab es eine Nachfrage, „die man sich nie hätte träumen lassen können. Die Menschen haben in der Früh aufs Aufsperren gewartet, und am Abend habe ich die Letzten hinauswerfen müssen.“

Doch auch als diese Welle abebbte, blieben die Umsätze erfreulich. Roth positionierte seine beiden Geschäfte, die nur vier Hausnummern voneinander entfernt sind, für unterschiedliche Kundschaften: Das eine zielt eher auf lifestyleaffines Publikum – mit Uhren der Marken Armani oder Diesel sowie modischen Schmuckkreationen. „Das können aber durchaus auch Diamanten sein.“ Im zweiten Geschäft kommen die Uhren von Tissot und Raymond Weil, der Schmuck gibt sich klassisch-konservativ. Dieses Konzept ist aufgegangen. Roth: „Ich bin auch heute sehr, sehr zufrieden.“

„Es gibt hier Armut, und ich fürchte, sie wird auch noch zunehmen.“

Dass nicht alle Menschen in Wien so zufrieden leben können, erfuhr er bei seinem „Zweitberuf“, den Aktivitäten in der Israelitischen Kultusgemeinde. „Ich lege ganz großen Wert darauf, dass das alles ehrenamtlich war, dass ich mich auch nirgends vorgedrängt habe, sondern gefragt wurde, ob ich das machen will“, so Roth. Es waren Engagements als Ombudsmann der IKG, als Vizepräsident des Maccabi-Fußballclubs, dann lange Jahre als Vorsitzender der Sozialkommission. „Da haben wir jedes Jahr etwa 1.500 Personen medizinisch oder finanziell unterstützt, es gibt hier Armut, und ich fürchte, sie wird auch noch zunehmen.“ Seinen Vorsitz verlor Roth nach der letzten Wahl in der Kultusgemeinde, da dieser an die neue Liste Respekt ging. „Das hat bei mir schon ein bisserl Bitterkeit zurückgelassen“, sagt er. „Aber viel wichtiger sind meine vier Enkerln, und ich wünsche mir noch mehr.“

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