Vorbildschule mit ärmlichen Anfängen

Am Salzburger Werkschulheim Felbertal können Buben und Mädchen neben der Matura auch gleichzeitig einen Lehrabschluss machen. Bei der Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dort auch jüdische Schüler und Lehrer.

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© Reinhard Engel

Jan David Feitzinger steht vor dem 3D-Drucker und beobachtet genau, was dieser macht. Schicht für Schicht baut der Automat eine orangefarbene Röhre aus Plastik auf. „Das gehört zu meinem Projekt“, erklärt Jan. „Das wird ein drehbarer Turm auf einem selbstfahrenden elektrischen Raupenfahrzeug.“ Das Projekt plant, entwickelt und baut der 17-Jährige eigenständig in den Werkstattstunden seiner Mechatronik-Klasse 7b. Dabei ist er nicht nur für die äußere Form seines zivilen bunten Panzers verantwortlich. Er hat auch den Elektroantrieb, die Steuermodule und einige Sensoren aus handelsüblichen Komponenten zusammengefügt und dafür die entsprechende Software geschrieben.

Die mit modernen Maschinen bestückte Werkstätte liegt hoch über dem Salzburger Ort Ebenau, etwa 20 Kilometer östlich der Landeshauptstadt. Und sie gehört zu einer der interessantesten Schulen Österreichs, dem Werkschulheim Felbertal. Dessen Besonderheit, die es auch von den zahlreichen HTLs unterscheidet, liegt in einer Kombination aus klassischem Gymnasium mit Lehrabschlüssen in mehreren Handwerksberufen. Den Absolventen steht damit eine Fülle von Möglichkeiten offen: vom direkten Eintreten ins Berufsleben bis zu sämtlichen Studienrichtungen, auch Medizin und Jus, wo Latein als Voraussetzung gilt, das man in HTLs üblicherweise nicht angeboten bekommt.

Wobei: Handwerksberufe stimmt heute nur mehr bedingt. Denn auch das Werkschulheim ist bereits seit einigen Jahren solide auf Digitalisierungskurs unterwegs. Tischlereitechnik, Maschinenbautechnik und Mechatronik heißen die drei angebotenen Lehrberufe heute, die die Burschen und Mädchen mit 18 Jahren abschließen können, ganz so, als hätten sie sie in Unternehmen gelernt. Ein Jahr später folgt dann die Matura. Diese Lehrberufe haben sich im Laufe des Bestehens der Schule seit den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder geändert: Ursprünglich waren es Tischlerei, Schlosserei und Radiomechanik gewesen, später Tischlerei, Mechatronik und Elektronik. „Heute haben wir bewusst diese Kombinationen gewählt“, erklärt Direktor Heinz Edenhofner. „Sie sind schon allein dadurch interessant, weil sich überall auch etwas bewegt.“

Die Lehrberufe in den Anfangsjahren waren Tischlerei, Schlosserei und Radiomechanik. © Foto Schreiber 1954

Und tatsächlich ist in den unterschiedlichen Werkstätten trotz dominierender Bildschirme, Messgeräte und Computertastaturen etwas los: Die Mädchen und Burschen hantieren routiniert an den Maschinen, ob zur Holzbearbeitung oder zum Drehen und Schleifen von Metall. Der Maschinenpark entspricht durchaus dem gängigen Industriestandard inklusive Roboter. Die Schule kann entweder junge gebrauchte Geräte günstig bekommen, oder schafft überhaupt gleich ein aktuelles Modell an. Immer wieder gibt es Sachspenden, diese reichen von Holz von der Salzburger Firma Kaindl über Emco-Bearbeitungsmaschinen bis zu einzelnen originalen BMW- oder KTM-Motoren, an denen dann die Funktionsweise von Kolben und Ventilen anschaulich erklärt werden kann.

Durchschnittlich fünf Stunden pro Woche verbringen die Burschen und Mädchen in den Werkstätten – zusätzlich zum normalen Unterrichtsprogramm laut Lehrplan. Bei den Jüngeren beginnt es ab zehn Jahren mit technischem Werken, in der Oberstufe spezialisieren sich die Schüler auf ihren jeweiligen Lehrberuf. „Anders als in den HTLs nehmen bei uns die praktischen Stunden laufend zu“, erklärt Werkstättenleiter Lukas Födinger. „Ich habe selbst eine HTL besucht, dort wird es mit den Jahren immer theoretischer.“

Die Anfänge des faszinierenden Schulmodells liegen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Alexej M. Stachowitsch, Sohn russischer Emigranten in Salzburg und zwischenzeitlich Offizier in der österreichischen und dann deutschen Armee, gründete nach einem Studienaufenthalt in den USA in einer abgelegenen Salzburger Gegend, dem Felbertal bei Mittersill, eine primitive kleine Bergschule. Vorbild war ein Modell im nahen bayerischen Berchtesgaden gewesen, wo Stachowitsch die Verbindung von akademischer und handwerklicher Ausbildung kennen gelernt hatte. Überdies wurzelte das Projekt sowohl in der Reformpädagogik der Zwischenkriegszeit wie in der internationalen Pfadfinderbewegung.

Displaced Persons. Von den ersten 22 Schülern im Startjahr 1951 waren neun Flüchtlingskinder, die nach Kriegsende in Salzburger Lagern hängen geblieben waren, so genannte DPs oder Displaced Persons, teilweise ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Unterstützung kam vom Landesschulrat, vom Weltkirchenrat und von der amerikanischen Ford-Foundation. Die Lehrpläne der bitteren ersten Jahre schlossen Holzfällen mit ein, damit man überhaupt Schule und Schlafräume beheizen konnte. Aber in den Tischlerei- und Schlosserei-Werkstätten begann schon eine solide handwerkliche Ausbildung neben der akademischen. Und auch was Demokratie und Toleranz angeht, wagte man sich für damalige Verhältnisse weit vor: Bei der Erstellung der ersten Schulverfassung hatten die Schüler das gleiche Stimmrecht wie Eltern und Erzieher. Die Schulgründer sahen sich wohl in einer christlichen Tradition verwurzelt, aber Religionsunterricht gab es in mehreren Konfessionen.

Ingrid Urschler war schon in den Anfangsjahren des Werkschulheims Professorin für Biologie und Erzieherin. Sie lebt heute in Hof bei Salzburg und erinnert sich noch an einzelne Schüler, etwa an Dan Kupferblum. Dieser war zwar 1940 in Jerusalem geboren, stammte aber ursprünglich aus einer Familie galizischer Großgrundbesitzer. Sein Vater Gerszon floh vor den Nazis erst nach Rumänien, dann in das britische Mandatsgebiet, das heutigen Syrien, und kämpfte mit der britischen Armee gegen die Deutschen unter Rommel. Nach dem Krieg versuchte er – vergeblich –, seinen Besitz in Polen zurückzubekommen. Diesmal waren es die Kommunisten, die es ihm verweigerten. Die Familie zog nach Wien, wo der Vater mit technischen Bauteilen und Geräten handelte. Sein Sohn Dan hatte eine seltene Hautkrankheit und war hier in Behandlung. Weshalb er dann für einige Jahre in der abgelegenen Bergschule landete und wann er nach Israel übersiedelte, ist nicht bekannt. Er starb in Tel Aviv im Jahr 1972 als Dan Kupferblum Ben-Arad. Sein Halbbruder Markus arbeitet als Regisseur, Autor und Clown in Wien und international.

„Vor allem der deutsch-israelische Austausch ist ihm wichtig.“
Südkurier Konstanz über Werner Haberland

Frau Urschler erinnert sich auch an einen Kollegen unter den Lehrern, Werner Haberland. Er war der Sohn des Berliner Bauunternehmers Georg Haberland und Enkel von Salomon Haberland. Die Berlinische Bodengesellschaft Haberlands gilt als einer der Vorläufer des deutschen Baukonzerns Bilfinger SE (früher Bilfinger Berger AG). Georg Haberland war in der Weimarer Republik als Immobilienentwickler tätig. Sein Unternehmen baute in Berlin sowohl Wohnhäuser als auch U-Bahn-Stationen, bekannt sind etwa das Ullsteinhaus, ein Karstadt-Kaufhaus am Hermannplatz in Kreuzberg oder das großbürgerliche Bayerische Viertel in Schöneberg. Die Nazis bedrängten ihn schon, ehe sie die Macht übernahmen, und vor der Verfolgung bewahrte ihn nur sein früher Tod im Jahr 1933 bei einer medizinischen Behandlung in Italien. Sein älterer Sohn Kurt wurde in Auschwitz ermordet, der jüngere Sohn Werner, geboren 1899, schaffte im Jahr 1937 die Flucht in die Schweiz.

Er hatte sich nicht für das väterliche Unternehmen interessiert, sondern in Berlin und Heidelberg Philosophie und Literatur studiert und nach dem Tod des Vaters mit einem Teil seines Erbes in Überlingen am Bodensee eine Obstplantage gekauft. Vom Verkaufserlös dieses Obstgartens wollte er – nach Arisierung und Rückgabe – im Ort vom Jugendherbergswerk eine Martin-Buber-Jugendherberge errichten lassen. Mit Martin Buber soll Haberland in den 20er-Jahren befreundet gewesen sein.

„Ein Haus der internationalen Jugendbegegnung will er schaffen, vor allem der deutsch-israelische Austausch ist ihm wichtig“, schrieb die Regionalzeitung Südkurier Konstanz. „Ganz im Sinne von Haberlands Wunsch prangt im Foyer der Herberge das Motto Martin Bubers: Alles wirkliche Leben ist Begegnung. An ihren Stifter erinnert eine Bronzetafel am Eingang, und ein eigens eingerichteter Raum informiert umfassend über Buber und Haberland.“

Vor der Verwirklichung dieses großen Projekts unterrichtete Haberland Anfang der 50er einige Jahre im Salzburger Werkschulheim. Sein Judentum machte er nicht zum Thema, aber Kollegin Urschler erinnert sich an sein Weinen bei einem Informationsabend über KZs und Nazi-Gräuel. „Da müssen schreckliche Erinnerungen hochgekommen sein.“ Haberland starb laut Südkurier im Jahr 1970 in Überlingen, „ein großzügiger und bescheidener Mann“. Die Jugendherberge sollte er nicht mehr sehen, sie wurde erst fünf Jahre nach seinem Tod eröffnet.


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Eine Reportage über die Vorzeigeschule Felbertal findet sich im neuen Buch von Reinhard Engel So funktioniert Digitalisierung. Es ist der zweite Band des Sachbuchs für Jugendliche So funktioniert Wirtschaft. Der Autor möchte auch diesmal die jugendlichen Leser nicht mit grauen Theorien oder erhobenem Zeigefinger belehren. Statt dessen führt er sie in Unternehmen, wo sie Menschen begegnen, die in ihrer täglichen Arbeit praktisch mit Digitalisierung zu tun haben: der Biologin bei Raiffeisen, die Drohnen gegen Schädlinge fliegt; dem Tischler von Team7, der für die Erzeugung von eleganten Maßmöbeln CNC-Automaten einsetzt; dem Professor einer Fachhochschule, der in seiner Start-up-Firma Antriebe für Satelliten herstellt; oder dem Wiener Animationsunternehmen, das Filme für Disney und YouTube produziert.

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