Voting for Shylock

Anna Badora wurde 1951 in Polen geboren und studierte in Krakau und am Wiener Reinhardt-Seminar. Sie arbeitete unter anderem bei Giorgio Strehler und Peter Zadek und danach in leitenden Positionen an verschiedenen deutschsprachigen Bühnen. Nach ihrer Intendanz am Schauspielhaus Graz übernahm sie 2015 die künstlerische Direktion des Volkstheaters. Ihren bis 2020 laufenden Vertrag möchte sie nicht mehr verlängern.

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WINA: Obwohl Shakespeare so gut wie keine Juden gekannt haben dürfte, ist die eigentliche Hauptfigur dieser dunklen Komödie nicht der Titel gebende Kaufmann, sondern der Jude Shylock. Ein ganz übler und blutgieriger Wucherer und Schurke in bester antisemitischer Tradition. Wie kam es zur Wahl dieses Stücks?

Anna Badora: So würde ich die Figur nicht interpretieren. Es ist ein tolles Stück, ein Klassiker, aber eben ein heikles Stück, vor dem alle ein bisschen kalte Füße bekommen, weil Shakespeare damit ein in heutiger Wahrnehmung antisemitisches Stück geschrieben hat. Das war auch der Grund, warum Peter Zadek in jeder Lebensphase den „Kaufmann“ in einer neuen Interpretation inszenierte, insgesamt fünfmal. Das Stück hat ihn einfach nicht in Ruhe gelassen. Er prüfte, was es jeweils aktuell für Reaktionen beim Publikum auslöste. Ihn als Juden hat vor allem die gesellschaftliche Zuschreibung interessiert. Als hier lebende Polin kenne ich solche einengenden Zuschreibungen gut.

»Das Publikum entscheidet bei jeder Vorstellung, wer von den dreien Shylock spielt.«
Anna Badora

Jede Inszenierung steht und fällt mit der Interpretation des Shylock. Berüchtigt ist die antisemitische Version von 1943 mit Werner Krauss. Wie sehen Sie ihn?

Seit Peter Zadeks letzter „Kaufmann“-Inszenierung 1988 mit Gert Voss richten sich viele Inszenierungen dieses Stückes, auch international, nach diesem Vorbild: der Jude als charismatischer, toll aussehender, hochkarätiger Wallstreet-Banker, weit entfernt vom buckligen, asthmatischen Juden, wie oft gezeichnet. Heutzutage aber ist eine Festlegung der Figur, egal welcher Art, meistens anmaßend, weil sie eine Antwort darauf gibt, wer und wie „der“ Jude wirklich ist. Wir wollen mehr über diejenigen erzählen, die den Juden durch ihren Blick auf ihn erst erschaffen. So haben wir drei Stückvarianten mit je einem unterschiedlichen Shylock erarbeitet. Jeder stellt einen Grundtypus dar, der in der Gesellschaft entsprechende Gegner hat. Bei uns sind das: ein Banker alter Schule, ein aufs Geld versessener traditioneller Jude sowie ein glatter Businessmensch, der zudem noch eine Frau und farbig ist. Das Publikum entscheidet bei jeder Vorstellung, wer von den dreien Shylock spielt. Die anderen zwei Schauspieler/innen bleiben aber in der Inszenierung und spielen dann eben andere Rollen.

Wer sind diese drei Darsteller?

Den traditionellen Juden spielt der Wiener Sebastian Pass, der auch die Rolle des Antisemiten Gobo einstudierte, Rainer Galke gibt den Banker, oder er spielt Antonio, und für die weiblich-farbige Version von Shylock ist Anja Herden zuständig, die auch Portia verkörpern kann. Durch diese drei Varianten eröffneten sich uns bei den Proben unterschiedliche Perspektiven auf das Stück, Shylock ist eben nicht gleich Shylock. Und in jeder Variante ändert sich auch weitgehend die Rolle, weil andere Schmerzpunkte da sind.

Heißt das, dass an verschiedenen Abenden das Publikum möglicherweise ein anderes Stück sieht? Könnte man sich deshalb das Stück mehrere Male ansehen?

Ja, so ist es. Das Ganze ist natürlich ein Wagnis und eine riesige Herausforderung für die Schauspieler/innen, aber es beschreibt auch unseren Zugang zu dem Stück. Durch die Wahl legen die Zuschauer in gewisser Weise auch Shylock fest. Sie sind Mitschöpfer, wählen eine bestimmte Zuschreibung und übernehmen damit für ihre Schöpfung auch Verantwortung, wie bei jeder demokratischen Wahl. Einmal gewählt, können sie danach natürlich nichts mehr ändern.

Eine zweite je nach Interpretation umstrittene Figur ist Shylocks Tochter Jessica, die mit Lorenzo und vielen Dukaten durchgeht und Christin werden will. Sie verkörpert das Klischee der schönen Jüdin. Wie sehen Sie diese Rolle?

Jessica träumt davon, „dem Fluch, eine Jüdin zu sein“, zu entfliehen und als Christin volle gesellschaftliche Akzeptanz zu genießen. Dafür geht sie aufs Ganze: Sie betrügt und beraubt ihren Vater, verleugnet ihre Identität. Danach muss sie bitterlich erkennen, dass die Welt, der sie so bedingungslos angehören wollte, für die sie alles geopfert hat, nicht ihren blauäugigen Vorstellungen entspricht.

»Zumindest einen Stachel findet man darin,
der zur Auseinandersetzung zwingt.«
Anna Badora

Sie spielen das Stück in der Textfassung, die Zadeks Ehefrau Elisabeth Plessen 1988 erstellt hat. Wie haben Sie diese persönlich bearbeitet?

Wir haben diese stückgerechte, immer noch frische und moderne Textfassung stark eingestrichen, weil wir dem Publikum keinen fünfstündigen Abend zumuten wollten.

Den Schwerpunkt haben wir auf die Reibung zwischen dem materialistischen, seriösen Geschäftsmann Shylock und einer großstädtischen, leichtlebigen Spaß- und Spielgesellschaft gelegt, die nichts ernst nimmt und daher immer wieder das Schicksal herausfordert. Das Zentrum der Welt des Stücks bildet bei uns ein Spielcasino.

Ohne viel Arbeit und Fleiß zu investieren, schnell reich werden, bipolar umschaltend zwischen Exzessen und tiefer Ermüdung, ein bewundertes Leben zu führen, das ist die Lebensphilosophie der Clique rund um Antonio. Das fordert vor allem die raus, die nicht dazu gehören. Und Shylock gehört definitiv nicht dazu.

Die feiernde, tanzende Gesellschaft betreut die Choreografin Jasmin Avissar, eine Israelin.

Wie man es dreht und wendet, bleibt doch die Frage: Wozu brauchen wir dieses 400 Jahre alte, höchst umstrittene Drama? Könnte man es im 21. Jahrhundert nicht von den Bühnen der Welt verschwinden lassen oder zumindest von deutschsprachigen Bühnen? Was suchen, was finden wir heute darin?

Zumindest einen Stachel findet man darin, der zur Ausei­nandersetzung zwingt, auch mit unserer jeweilig eigenen Haltung. Das Stück verschwinden zu lassen, bestimmte Themen und gesellschaftliche Stimmungen, die ja da sind, einfach zu verschweigen, halte ich generell für den falschen Weg. Antisemitismus wird nicht nur aktuell durch bestimmte Migrantengruppen importiert, er war nie richtig weg. Durch Verschweigen verschwindet das Denken in den Köpfen nicht, im Gegenteil.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass das massive Erstarken der Rechtspopulisten in vielen Ländern Europas auch damit zu tun hat, dass viele Menschen meinen, eine ergebnisoffene Diskussion über manche Themen sei in unserer Gesellschaft nicht mehr möglich, und deswegen schweigen sie lieber öffentlich. Dann aber an der Wahlurne gibt sich die unausgesprochene Unzufriedenheit eine Stimme mit einem Ergebnis, das das Gegenteil von dem darstellt, was durch das Totschweigen gutgemeint erreicht werden sollte.

Daher meine klare Haltung, raus damit, in die Öffentlichkeit, auf die Bühne, zum ausgesprochenen Thema in der Gesellschaft machen, und tut es manchmal auch noch so weh. Und wenn mir mit dieser Inszenierung das ein Stück weit gelingen sollte, hätte das Theater ein wenig seine Existenzberechtigung erneut unterstrichen.

Es gibt doch genügend zeitgenössische Dramen zu diesen Fragen, etwa Yael Ronens Stück „Hakoah Wien“, warum gerade dieses belastete Stück?

Das Stück von Yael Ronen ist zutiefst politisch und doch außerordentlich unterhaltsam. Die junge Israelin betrachtet das Schicksal ihres Wiener Großvaters und ihres Vaters, nicht fiktiv, sondern teils biografisch, und macht es zum Gegenstand eines Bühnenstücks. Es ist aber eine andere Art der Auseinandersetzung mit der heutigen politischen Realität. Die Schmerzpunkte im „Kaufmann“ offenbaren sich weniger subtil, sondern krasser, vehementer, vielleicht auch plumper. Wir erkennen darin aber, wie in einem bösen Märchen, ein Jahrhunderte lang gespieltes oft tödliches Spiel der Stigmatisierung, Verfolgung und Ausgrenzung.

Sie sind seit 2015 künstlerische Leiterin des Volkstheaters. Ihren bis 2020 laufenden Vertrag wollen Sie nicht mehr verlängern. Worin wurden Sie enttäuscht?

Vielleicht haben wir die Neugier des Wiener Publikums überschätzt. Aber wir setzen alles daran, unsere Zuschauer in unseren nächsten beiden Spielzeiten mit spannenden, aktuellen und anregenden Inszenierungen an das Haus zu binden.

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