Wahlen in Israel: Viel Bewegung, wenig Veränderung

Auch von dieser Wahl ist nicht zu erwarten, dass danach alles ganz anders wird, und daher wird in diesem überlangen Wahlkampf wenig über Ideologien debattiert werden. Und ob Benjamin Netanjahu weiter Premierminister bleibt, wird eher der Generalstaatsanwalt entscheiden, als die Stimmzettel

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„Schicksalhaft“ ist das Eigenschaftswort, das israelische Medien von jeher gewohnheitsmäßig mit Knesset-Wahlen verknüpfen. Doch wirklich zugetroffen hat die Beschreibung zuletzt vielleicht 1992, als die Arbeiterpartei unter der Führung von Jitzchak Rabin an die Macht zurückkehrte und sofort in Verhandlungen einstieg, die zum Oslo-Abkommen mit den Palästinensern führten. Seither haben einander in Israel Regierungen verschiedener Schattierungen abgewechselt, aber unter dem Zwang der Umstände alle mehr oder weniger dasselbe gemacht: Sie haben nach einer angemessenen Antwort auf Terror und Raketen gesucht, Siedlungen ausgebaut und manchmal abgerissen, vor dem Iran gewarnt, niedrigere Lebenshaltungskosten versprochen und versucht, mit den Strengreligiösen auszukommen. Auch von der Wahl am 9. April, wer immer sie gewinnt, ist nicht zu erwarten, dass danach alles ganz anders wird, und daher wird in dem überlangen Wahlkampf wenig über Ideologien debattiert. Es scheint fast nur darum zu gehen, wer wie stark für oder gegen den amtierenden Premierminister eintritt und unter welchen Umständen er zurücktreten müsste. Die Frage, ob die Ära Benjamin Netanjahu in diesem Jahr zu Ende geht, ist ja wirklich spannend. Sie wird aber vermutlich nicht durch die Stimmzettel entschieden werden, sondern durch den Generalstaatsanwalt.

Zehn Jahre in einem Stück. Von Netanjahu haben manche einfach schon deswegen genug, weil er schon so lange die israelische Politik dominiert. Zehn Jahre in einem Stück ist er jetzt Regierungschef. Und sollte er sich noch bis Juli halten, dann überholt er, wenn man seine erste Amtszeit 1996–1999 hinzurechnet, den Staatsgründer David Ben-Gurion als längstdienender israelischer Premier. Nur die verzehrende Sehnsucht nach einem Gegen-Netanjahu erklärt, wieso Benny Gantz mit seiner neu gegründeten Partei – sie bekam den klobigen Namen „Chosen LeJisra’el“ („Festigkeit für Israel“) – in den Umfragen aus dem Stand auf Platz zwei springen konnte, noch bevor er auch nur eine Silbe über sein Programm gesagt hatte. Wie ein Symbol für die hochfliegenden Erwartungen an den feschen, aber politisch völlig unerfahrenen Exarmeechef ist die ein bisschen närrische Überschätzung seiner Körpergröße. Manche glauben unbeirrbar daran, dass Gantz zwei Meter groß ist. Sein Wahlhelferstab schreibt ihn mit 1,95 Meter an, während Gantz selbst in einem Interview klarstellte, er sei „nur“ 1,91 Meter groß, was ja auch reichen wird, um zumindest physisch die herausragende Figur im Parlament zu werden.

„Im Nahen Osten gewinnt nur der Starke“, rief
Gantz aus und riet dem Iran und der Hamas,
„mich nicht auf die Probe zu stellen“. Mit Blick
auf die Palästinenser versicherte er, dass seine Regierung „den Frieden anstreben“ werde.

 

Ende Jänner hielt dann das ganze Land den Atem an, als Gantz in einer von den israelischen Fernsehkanälen live übertragenen Rede endlich seine Weltanschauung offenbarte. „Im Nahen Osten gewinnt nur der Starke“, rief er aus und riet dem Iran und der Hamas, „mich nicht auf die Probe zu stellen“. Mit Blick auf die Palästinenser versicherte er, dass seine Regierung „den Frieden anstreben“ werde, um im selben Atemzug zu präzisieren: „Das vereinigte Jerusalem wird für immer die Hauptstadt des jüdischen Volkes und Israels bleiben“, „das Jordantal wird unsere Ostgrenze bleiben“, und „wir werden die jüdischen Siedlungsblocks stärken.“ Das alles klang irgendwie bekannt, denn genau das sagt Netanjahu schon seit vielen Jahren. Doch mit seinem gewinnenden Auftreten löste Gantz eine Minieuphorie aus, und seine Partei kam in den Umfragen Netanjahus führendem Likud näher. Drei Wochen danach sprachen Kommentatoren gar von einem „Big Bang“, als Gantz sich mit Yair Lapid zusammentat, dem früheren Fernsehmoderator, der selbst erst vor den Wahlen 2013 eine Partei gegründet hatte. Gantz und Lapid kündigten an, sich würden einander im Amt des Premierministers abwechseln, und ihr Bündnis, das den Namen „Blau-Weiß“ bekam, lag in den Umfragen sofort an der Spitze.

Neue Parteien, alte Blöcke. Doch entscheidend ist nicht die Platzierung einzelner Parteien, sondern die Stärke der Blöcke. Ein nüchternes Durchzählen der Mandate ergibt, dass Netanjahu wohl wieder der einzige sein wird, der eine Regierung bilden kann. In den drei Wahlgängen seit 2009 sind die rechten und religiösen Parteien zusammen stabil auf rund 60 der 120 Mandate gekommen, und das war entweder die Basis für eine große Koalition oder reichte, mit der Unterstützung der einen oder anderen Zentrumspartei, zumindest für eine knappe Parlamentsmehrheit. Ebenso stabil kommen die Links- und Zentrumsparteien zusammen (wenn man die nichtzionistischen „arabischen“ Parteien nicht mitzählt, die bei Regierungskoalitionen nicht mitmachen) auf deutlich weniger als 50 Mandate. Daran hat auch Gantz nichts geändert, denn er hat der Rechten zunächst kaum Stimmen abgewinnen können.

Das trügerische Gefühl, dass alles in Bewegung wäre, rührt daher, dass israelischen Wahlen immer schwindelerregende Umgruppierungen vorausgehen. Parteien werden gegründet, spalten sich, fusionieren, rekrutieren Überläufer, gehen unter. Das wehrlose Publikum wird ständig mit Informationen darüber traktiert, wer mit wem geht, wie die Kandidaten gereiht sind, welche Meteore gerade auftauchen oder verglühen. Rechts außen etwa hat die zuletzt größte Fraktion, „Das jüdische Heim“, den Kopf verloren, denn ihre beiden Führungsfiguren, die umtriebigen Minister Naftali Bennett und Ajelet Schaked, haben sich einfach eine neue Partei gebastelt, die sie stilgerecht „Die neue Rechte“ nennen. Mit einer neuen Partei („Gescher“, zu Deutsch „Brücke“) tritt auch die auf Sozialthemen spezialisierte Orly Levy an, die zuvor in der weit rechts stehenden Partei des Exministers Avigdor Lieberman zuhause war. Und auch der ebenfalls rechtsgerichtete Exverteidigungsminister Mosche Jaalon hat nach seinem Austritt aus dem Likud eine eigene Partei gegründet, ist aber inzwischen mit Gantz verpartnert. Der Exgeneral Jo’aw Galant wiederum ist von der Lapid-Partei zum Likud abgesprungen.

Das trügerische Gefühl, dass alles in Bewegung wäre, rührt daher, dass israelischen Wahlen immer schwindelerregende Umgruppierungen vorausgehen. Parteien werden gegründet, spalten sich, fusionieren, rekrutieren Überläufer, gehen unter.

Auf der linken Seite ist die erst 2015 aus vier arabischen Parteien gebildete „Gemeinsame Liste“ nun in zwei Teile zerfallen. Zerbrochen ist auch das „Zionistische Lager“, das vor den letzten Wahlen als Bündnis zwischen der Arbeiterpartei und der „Bewegung“ von Exaußenministerin Tzipi Livni entstanden war. Der relativ neue Chef der Sozialdemokraten, Avi Gabbay, hat Livni im Jänner auf demütigende Art hinausgeschmissen – ein Ausdruck für die Ratlosigkeit und Zerstrittenheit der einstigen Großpartei, die den Staat gegründet und aufgebaut hat, aber jetzt vor dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte steht. Livni ihrerseits, die die Sperrklausel von 3,25 Prozent alleine nicht geschafft hätte, hat sich aus der Politik verabschiedet.

Dem Land geht es gut. Wieso war und ist es für Livni oder Gabbay, Lapid oder Gantz so schwer, einen bald 70-jährigen Gegner zu besiegen, der national und international Irritationen auslöst, gegen den die Polizei ermittelt und dessen Frau und Sohn ständig negative Schlagzeilen machen? Eine Erklärung liegt darin, dass Netanjahu, ob man ihn verehrt oder verabscheut, einfach ein größeres Kaliber ist als alle seine Rivalen. Er ist ein blendender Redner, sein Englisch hat Muttersprachenniveau, er hat Sicherheits- und Wirtschaftskompetenz und ist in den USA bestens vernetzt. Vor allem aber geht es dem Land nach zehn Jahren unter Netanjahu objektiv betrachtet ziemlich gut. Die Wirtschaft wächst stetig bei niedriger Arbeitslosigkeit, geringer Staatsverschuldung, immer mehr Investitionen internationaler Konzerne und immer neuen Rekordzahlen im Tourismus. Die militärische Lage ist, bei allen Problemen, so günstig wie noch nie in Israels Geschichte. Und außenpolitisch öffnen sich für Israel immer mehr Türen, bei Giganten wie China und Indien ebenso wie in Südamerika, Afrika und sogar im arabischen Raum.

Die Schlüsselrolle im gegenwärtigen Wahlkampfspektakel spielt aber weder Netanjahu noch Gantz, sondern ein unscheinbarer Beamter namens Avichai Mandelblit. Nach allgemeiner Erwartung sollte der Generalstaatsanwalt noch vor dem Wahltag bekanntgeben, dass er beabsichtigt, Netanjahu wegen Bestechung vor Gericht zu stellen. Der Beschuldigte hätte dann vor einer tatsächlichen Anklage noch das Recht auf eine Anhörungsprozedur, die sich über Monate hinziehen würde. Niemand kann wissen, wie sich Mandelblits Ankündigung auf den Wahlausgang auswirken wird. Aber man kann davon ausgehen, dass sie viele in ihrer Meinung bloß bestärken wird. Bei den hartgesottenen Netanjahu-Anhängern, die ohnehin glauben, dass man ihr unbesiegbares Idol durch eine Justizverschwörung loswerden will, wird wohl ein Jetzt-erst-recht-Effekt eintreten. Die Netanjahu-Gegner werden argumentieren, es dürfe einfach nicht so weit kommen, dass ein und derselbe Mann am Vormittag auf der Anklagebank und am Nachmittag auf dem Premiersessel sitzt.

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