Wenn Musik Körper und Seele rettet

Von Ottakring nach Los Angeles verschlug es den jüdischen Komponisten Walter Arlen, über den jetzt ein einzigartiges Filmporträt erschienen ist.

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Walter Arlen, der zuletzt fast erblindet war, versucht ein historisches Dokument zu entziffern. © filmdelights.com

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Was erwartet man von einem Film, der mit einer cognacfarbenen Schirmmütze beginnt und mit etwas zu langen Herrenhosen aufhört? Die Antwort ist ganz einfach: eine liebenswert-humorvolle Lebensgeschichte, die sich über ein schreckliches und gleichzeitig auch schönes Jahrhundert erstreckt.
Es geht um die wunderbare filmische Erzählung Das erste Jahrhundert des Walter Arlen in der Regie von Stephanus Domanig. Dem 51-jährigen Drehbuchautor von Dokumentarfilmen ist es gelungen, ein berührendes Menschenbild des jüdischen Komponisten Walter Arlen zu zeichnen, den er sowohl von seinem unfreiwilligen Weggang aus der Brunnengasse in Ottakring erzählen lässt wie auch in sein neues Zuhause in Los Angeles begleitet. Er zeigt ein Leben erfüllt und getragen von Musik, Liebe, Ironie und bittersüßer Nostalgie, die sich auch aus unvergessenen Verletzungen nährt.
„Ich habe mich bemüht, der Dramatik von 1938 und 1939, die Walters Leben nachhaltig geprägt hat, die Leichtigkeit späterer Lebensabschnitte entgegenzusetzen“, erläutert Domanig. „Denn Walters gegenwärtiges Leben hat die Schwere des Exils in gewisser Weise überwunden. Im Grunde verändern wir im Laufe des Films die Erzählperspektive. Vom Rückblick wird es zu einem Blick auf die Gegenwart.“ Dem gebürtigen Südtiroler gelingt es, sowohl die Schwere wie auch die Leichtigkeit dieses jüdischen Schicksals in einem bewundernswerten Rhythmus darzustellen.

»Bereits am Samstag, dem 12. März 1938,
verwies eine Angestellte meine Mutter
aus ihrem eigenen Geschäft.«
Walter Arlen

Es beginnt schon mit dieser ganz alltäglichen Szene auf der Autobahn in Los Angeles, wenn der 97-Jährige als backseat driver (ein „Besserwisser“, der den Fahrer nervt) seinem Partner Anweisungen gibt – seine elegante Schirmmütze in die Stirn gerückt. Ein ganz normaler älterer Herr? Ganz und gar nicht, denn sehr bald steht er vor dem gesichtslosen Gebäude der Wiener Arbeiterkammer auf der Prinz-Eugen-Straße und erzählt in kräftigen Sprachbildern von einem erschütternden Erlebnis im Jahr 1939: „Der Himmel war strahlend blau, der frische Schnee blütenweiß, er verfärbte sich plötzlich blutrot, als der SA-Mann mit seinem Gewehrkolben dem gebrechlichen alten Juden auf den Kopf schlug.“ So schildert Walter Arlen eine Beobachtung, als er in einer Warteschlange für eine „ganz normale“ bürokratische Schikane mit weiteren ausreisewilligen Juden vor dem damals konfiszierten Rothschild-Palais stand.

Stephanus Domanig: Das erste Jahrhundert des Walter Arlen. AT 2018, 94 min.
Kinostart: 22. März 2019

„Ich bin in einem Arbeiterbezirk aufgewachsen und habe mich da sehr zu Hause gefühlt. Wien war eine pomali, sehr ruhige Stadt“, erzählt der Mann, der als Walter Aptowitzer am 31. Juli 1920 hier zur Welt kam. An der Ecke Brunnengasse/Grundsteingasse in Ottakring hatten seine Großeltern Leopold und Regine Dichter im Jahr 1890 ein Warenhaus errichtet. „Sie waren sehr erfolgreich, denn mein Großvater schlug nie mehr als 3,5 Prozent auf den Einkaufspreis auf, so konnten sich die kleinen Leute die Sachen leisten.“
Walter Arlen wuchs praktisch im Kaufhaus auf, denn die Wohnräume der Familie lagen in den oberen Stockwerken, und dort hatte er sein eigenes Zimmer – mit einem Klavier. Der Großvater brachte den fünfjährigen Buben zum bedeutenden Musikwissenschaftler und Schubertforscher Otto Erich Deutsch, um herauszufinden, ob er talentiert sei. Deutsch stellte bei Walter ein absolutes Gehör fest und empfahl Klavierunterricht.
„Mein bester Freund war Paul Hamburger, der am Konservatorium studierte und mir die bedeutendsten Stücke der Klavierliteratur vorspielte und erklärte – eine unbezahlbare Erfahrung in den Jahren, die mich am stärksten prägten. Er war später ein bedeutender britischer Gesangslehrer“, erinnert sich Arlen. Seine schöne Kindheit und Jugend fand ein jähes Ende: „Bereits am Samstag, dem 12. März 1938, verwies eine Angestellte meine Mutter aus ihrem eigenen Geschäft; in der Nacht von Sonntag auf Montag um zwei Uhr früh holten acht SA-Männer mit Gewehren meinen Vater aus dem elterlichen Schlafzimmer. Er kam für viele Monate nach Dachau. Am Montag stand schon der Ariseur in der Tür.“ Das Geschäft wurde beschlagnahmt, die restliche Familie aus der Wohnung gewiesen.

Walter Arlen wuchs im Kaufhaus seines Großvaters auf, im Stock darüber stand sein Klavier. © filmdelights.com

Walters Eltern und seine Schwester überlebten den Nazi-Horror im Londoner Exil, die Großmutter wurde in Treblinka ermordet. Seine Schwester machte sich unter ihrem späteren Namen Edith Arlen Wachtel als Soziologin einen Namen: Sie veröffentlichte die erste Studie über den Einfluss des Fernsehens auf Kinder. Sein Cousin Ernst Dichter, einst Dekorateur der 48 Schaufenster des Ottakringer Warenhauses, wurde zu Ernest Dichter, dem Werbeguru – weltbekannt für seinen Slogan Put a Tiger in your Tank!
Walter schaffte es nach Chicago: Eine Großtante hatte das lebensrettende Affidavit (Bürgschaft) geschickt. „Kaum war ich angekommen, da führte mich Fanny schon zu Walzer and Company, ihrem Kürschner an der Michigan Avenue; die mussten mir einen Job geben. Dort arbeitete ich für zwölf Dollar die Woche.“ Arlen hatte bereits als Zehnjähriger zu komponieren begonnen. Als 19-jähriger Flüchtling in den USA hatte er keinen Zugang zu einem Klavier und verfiel in eine starke Depression. „Nach einer Psychoanalyse wurde mir klar, dass ich komponieren musste, um nicht krank zu werden. Ich fand Leo Sowerby, den berühmten Organisten und Komponisten aus Chicago, und bat ihn um Kompositionsunterricht. Mit einem Liedzyklus gewann ich bei einem Wettbewerb den ersten Preis.“
In der Folge lernte Arlen zahlreiche Komponisten, Dirigenten und Musiker kennen, studierte an drei Universitäten und schloss ein Bachelor- und Master-Studium ab. Dann bekam er das Angebot, Musikkritiker für die Los Angeles Times zu werden, damals die Tageszeitung mit der weltweit größten Auflage.„Meine erste gedruckte Rezension war eine Welturaufführung von Igor Strawinsky“, erzählt er im Film sichtlich stolz. „Ich komponierte fast dreißig Jahre lang nicht: Irgendwie fand ich Musikkritik unvereinbar mit Komponieren. Mein Drang, mich schöpferisch auszudrücken, schien zu einem gewissen Grad durch das Verfassen von Rezensionen befriedigt. Und ich musste ja auch von etwas leben.“
Während eines Sabbaticals 1986 stieß der verhinderte Komponist auf eine Reihe von schönen Gedichten, vertonte sie spontan, und plötzlich war diese Lust zum Komponieren wieder da. „Exil-Musik, das ist etwas, das keiner schreiben kann, den das Leben in Ruhe gelassen hat“, so der einfühlsame Regisseur Domanig. Bis zu seiner teilweisen Erblindung durch eine Macula-Degeneration schrieb Arlen 65 Musikstücke. Eine Auswahl seiner Werke begleitet das filmische Porträt von Stephanus Domanig: Es erklingt eine Nocturne mit dem Titel Kristallnacht in Wien, ein Schlummerlied mit dem schaurigen Namen Arbeit macht frei, Kantilenen, die stark vom Lieblingskomponisten Franz Schubert inspiriert sind, und schließlich eine nostalgische Melodie über die Blue Danube. „Schuberts Musik hat etwas in mir ausgelöst. Seine Lieder sind so eingängig und einzigartig, ein Wiener Gefühl – und das bin ich.“ Dabei sieht man eine Szene, in der Arlen, begleitet von seinem umsichtigen Partner Howard, in etwas zu langen Hosen das Laub in einer Parklandschaft aufwirbelt. Und im Hintergrund erklingt das jiddische Lied A bissel Sun a bissel Regn, a ruhig Ort den Kopf zu legn, abi gesund, so kann man glicklich sein.

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