Wina Editorial

2089

Das heurige Jahr war kein gutes. Nicht für Juden und nicht für die Weltgemeinschaft. Krieg, Terror, Grausamkeit, Krisen und Flucht waren die Eckpunkte des Jahres 5774. …“ habe ich hier vor genau einem Jahr geschrieben, und weiter: „Im Mittelpunkt dieser Abwärtsspirale und all dieser Krisen im Orient wie Okzident standen stets Kinder, die Hunger, Angst und Not litten. Kinder, die keine Zukunft mehr vor Augen hatten. Kinder, die verhetzt und verheizt wurden. Kinder, die auf der Flucht und auf der Suche nach neuer Heimat waren. Kinder, die in Flüchtlingsbooten an Europas Türen rüttelten und immer öfter vor ihnen ertranken.“

Die Abwärtsspirale hat sich seither rasant weiter nach unten gedreht. Sie ertrinken nicht nur im Mittelmeer, sie ersticken in LKWs von Schleppern an der österreichischen Autobahn, sie verbringen Tage und Nächte vor und in überfüllten Bahnhöfen, wohnen in Zelten oder ohne Zelte in Parks, auf der Straße und vor Flüchtlingslagern. Und das alles vor unseren Augen.

Die Grundlage des Weltfriedens ist das Mitgefühl. - Dalai Lama

Frauen bringen ihre Kinder auf Decken am Bahnhof zur Welt oder verlieren ihre Nichtgeborenen unterwegs auf der Flucht. In ihren Augen Tränen der Hoffnungslosigkeit. Väter und Mütter, die sich alleine mit ihren Kindern durchschlagen, zu Fuß von Afghanistan bis nach Ungarn, und auf Bahnhöfen stranden. Sie begegnen Gewalt, Vergewaltigung, Erniedrigung auf dem Weg in eine bessere Zukunft, auf der Flucht aus den Kriegshöllen ins reiche Europa. Und Europa empfängt sie mit Chaos, mit Ablehnung, mit unkoordinierten Entscheidungen, mit überfüllten Flüchtlingslagern, mit gesperrten Bahnhöfen und überladenen Zügen.

Wenn man in den Notunterkünften der Flüchtlinge den Menschen zuhört, versteht man wie sehr ihr bisheriges Leben, aus dem sie plötzlich mit Waffengewalt hinauskatapultiert wurden, dem unseren gleicht: Sie sind ÄrztInnen, UnternehmerInnen, IT-SpezialistenInnen, Hausfrauen, Eltern, Großeltern und Kinder. Sie gehören meist der Mittelschicht an, denn sozial Schwächere können sich die teuren Schlepperwege nicht leisten. Sie haben eine Ausbildung, und hatten eine gesicherte Existenz und dachten nicht im Traum daran, sich plötzlich in einem fremden Land, auf einem fremden Kontinent wiederzufinden, ohne zu wissen, was mit ihnen weiter geschehen wird.

Die Geschichte wiederholt sich – in Variationen. Wenn ein 13-jähriger afghanischer Junge neben mir im Zug an der Grenze zum Aussteigen gezwungen wird, der Beamte ihn und seine Reisekameraden (an dem Tag etwa 100 Menschen, die an der ungarischen Grenze aus dem Zug geholt werden) mit Lederhandschuhen vor sich herstößt und ihm sagt „You go back Afghanistan!“, erinnert mich das an die Kindertransporte nach Großbritannien, an die Fluchtboote nach Palästina, an illegale Schlepperwege in die Schweiz – vor sieben Jahrzehnten. Viele haben es damals geschafft, weil nicht alle weggeschaut haben, weil sie Glück hatten, weil der Lauf der Geschichte kurz ein Tor in die Freiheit geöffnet hat. Doch die Seelen derer, die es damals nicht geschafft haben, die umgekommen sind – jene sechs Millionen Seelen – mahnen uns, uns die Zivilgesellschaft, aber auch alle religiösen und staatlichen Institutionen, nicht wegzusehen, nicht zu akzeptieren, sondern unsere Augen, unsere Türen, unsere Grenzen zu öffnen für jene Menschen, die vor dem gemeinsamen Feind flüchten: vor Krieg, Elend und Gewalt.

Ich wünsche uns allen für das Jahr 5776 viel Kraft, Frieden, Gesundheit und die Fähigkeit zum Mitfühlen und Mithelfen!

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