„Wir gehen weiter, das ist noch nicht alles!“

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Mit 22 Jahren wird Moshe Flomenmann bereits Landesrabbiner in Deutschland. Der jüngste, den es gibt. Wer glaubt, dass es ihm deswegen an Gelehrtheit mangelt, hat sich mächtig getäuscht. Von Manja Altenburg  

Ein wenig unbehaglich zumute ist es Moshe Flomenmann, unter der Rubrik „[End-]Station“ porträtiert zu werden. Denn schließlich, so Flomenmann, „gibt es für uns Juden keine Endstation; wir sind immer optimistisch und schauen nach vorne; es geht immer weiter.“ Das unterstreicht er anschaulich mit einem jüdischen Witz und fügt hinzu: „Mit dem Leid, das dem jüdischen Volk widerfahren ist, geht es mit Humor um.“ Eine Charaktereigenschaft, die auch den jungen Landesrabbiner auszeichnet. Flomenmanns Werdegang zum Landesrabbiner ist beeindruckend. Er selbst beschreibt ihn bescheiden und nüchtern. Sein Weg ist für ihn keine Karriere, sondern schlichtweg seine Berufung. Geboren in der Ukraine in einem Elternhaus, in dem jüdische Religion und Tradition „sehr wichtig waren“ – sein Urgroßvater war Bezirksrabbiner, sein Großvater Direktor eines jüdischen Gymnasiums, in dem auch seine Großmutter lehrte –, findet er früh den Weg zu seiner heutigen Berufung. Als Dreijähriger besucht er bereits die Toraschule in Beridtchev. Ein Ort, in dem vor dem Krieg 90 % der Bevölkerung jüdisch war und der viele berühmte Rabbiner hervorbrachte. Als Flomenmann zwölf ist, entscheiden sich die Eltern aufgrund des vorherrschenden Antisemitismus, nach Deutschland auszuwandern.

„Wir Juden sind immer optimistisch und schauen nach vorne.“

Ordinierter Rabbiner mit einundzwanzig Jahren

Chemnitz wird Wohnort der Familie, an dem es jedoch an jüdischer Infrastruktur mangelt. Um seinen religiösen Weg und seiner Berufung, anderen zu helfen, Folge leisten zu können, studiert Flomenmann vier Jahre lang an der jüdischen Akademie in Kopenhagen und weitere vier an der renommierten europäischen Rabbiner-Universität in Manchester. Mit nur einundzwanzig Jahren erhält er dort seine Smicha (Diplom). Heute besitzt er sogar mehrere Smichot. Ende 2003 wird er in Lörrach Gemeinde-rabbiner, nur sieben Monate später folgt er dem Ruf als Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt. Fast sieben Jahre leitet er sein Amt und betreut die jüdischen Gemeinden Dessau, Magdeburg und Halle. Doch spüren er und seine Frau Tova im Laufe der Zeit, dass sie eine stärkere jüdische Infrastruktur benötigen, um ihre Jüdischkeit angemessen leben zu können. „So war dieser Punkt damals im engeren Sinne eine ‚Endstation‘ für uns in Sachsen-Anhalt“, meint Flomenmann augenzwinkernd.

Jugend als Vorteil

2011 wird er Stadtrabbiner von Lörrach und im Juli 2012 Landesrabbiner von Baden. Der jüngste, den es in Deutschland gibt. Damals ist er 29 Jahre alt. Auch wenn er bescheiden und eher beiläufig bekennt, dass es ihm natürlich an Lebenserfahrung fehlt, sieht er sein Alter als Vorteil. Er verstehe die junge Generation besser und kann so Jüdischkeit und gelebtes Judentum in ihre jugendliche Sprache umsetzen. Etwas, was ihm bis heute sehr am Herzen liegt. Jugend-Schabbaton und verschiedene Seminare der Zentralen Wohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWST) organisiert er bereits während seines Studiums; Tagungen und Konferenzen im angemessenen Stil für Jugendliche folgen. Flomenmanns Vision ist es, die Gemeinden in Deutschland lebendig zu erhalten, jüdisches Leben nicht nur in der Theorie zu praktizieren. Vor allem: nicht stehen zu bleiben. Eben keine „Endstation“.

Ein „Wow-Erlebnis“, das seine Entscheidung, Rabbiner zu werden, auslöste, hatte er nicht. Früh ist ihm bewusst, dass er anderen helfen möchte und Rabbiner werden will. „Wow-Erlebnisse“, die ihn immer wieder in seiner Lebensentscheidung bestärken, hat er seither hingegen oft. Er spürt sie intensiv in den Momenten, in denen Juden, die Jahrzehnte die jüdische Tradition entbehrten, wieder praktizierende Juden werden.

Ihm geht es eben nicht nur um bloße Theorie. „Was bringt es, Kaschrut (Speisegesetze) und Jüdischkeit zu predigen, wenn alles Theorie bleibt?“ In die Praxis geht er auch in Dialogen und vor allem Trialogen, um herrschenden Antisemitismus zu verkleinern. „Wir können Antisemitismus minimieren, indem wir in Dialog treten, Vorurteile abbauen, Nichtwissen und Stereotype auflösen, aber komplett weggehen wird er nie.“

Darum werde, der du bist!

Stillstand ist für den Landes- und Gemeinderabbiner sowie Religionslehrer, der zehn Gemeinden von Konstanz bis Mannheim betreut, ein wahrer Graus. „Wir gehen weiter, das ist noch nicht alles.“

Er strebt stets die Entwicklung an: die des eigenen Potenzials, das jedem innewohnt. Ihm geht es nicht darum, dass man sich verbiegt, um eine fremde Persönlichkeit zu werden. Ganz im Gegenteil: Man soll man selbst werden, das zum Leuchten bringen, was G-tt jedem einzelnen als Matana (Geschenk) gegeben hat. Ernsthaft und zugleich humorvoll fügt Flomenmann am Ende des Gespräches hinzu: „Aus diesem Grund darf das jüdische Leben in Deutschland nie ‚Endstation‘ werden, sondern soll sich stets weiterentwickeln.“ ◗

Moshe Flomenmann wird 1982 in der Ukraine geboren. Dort besucht er die Tora-Schule. 1995 emigriert die Familie nach Deutschland. Von 1996 bis 1999 lernt er an der jüdischen Akademie in Kopenhagen, danach an der Rabbiner-Universität Jeschiwa, Manchester, wo er 2003 sein Diplom erhält. Noch im selben Jahr wird er in Lörrach Gemeinderabbiner, 2004 Landesrabbiner von Sachsen-Anhalt. 2011 wird er Stadtrabbiner von Lörrach, 2012 Landesrabbiner von Baden. Flomenmann lebt mit seiner Frau und seiner anderthalbjährigen Tochter in Lörrach.

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