Wir sind nicht anders, bei allem guten Willen

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Seit 40 Jahren besteht in Samar eine Gemeinschaft, die an vielen anderen Orten lange schon gescheitert wäre. Warum es hier funktioniert, dafür haben die Bewohner des kleinen Kibbutzes viele Antworten. Von Gisela Dachs

Samar ist ein Unikum. Man könnte einiges von den hundert Erwachsenen lernen, die hier mit ihren Familien wohnen. Wie etwa in einem gemeinschaftlich organisierten Leben durchaus dem Individualismus und Spaß an der Sache gehuldigt werden kann. Und warum hier zu funktionieren scheint, was unter anderen Umständen erfahrungsgemäß zum Ruin geführt hätte.

Was als ein Projekt rebellierender Jugendlicher begonnen hat, kommt jetzt in die Jahre.

Von Tel Aviv sind es mit dem Auto gut vier Stunden bis hierher. Der Ort liegt einsam auf der Strecke, inmitten der steinigen Arava, umrandet von roten Bergen und Dattelfeldern.

Der Flughafen von Eilat, eine halbe Stunde entfernt, hat Samar näher ans Zentrum des Landes gerückt, ebenso wie die Laptops, die es in jedem Haushalt gibt. Aber eine zentrale ursprüngliche Idee aus der Gründungsphase in den 1970er-Jahren hat dennoch bis heute überlebt: die gemeinschaftliche Kasse.

Früher war sie aus Holz und befand sich in einem für alle zugänglichen Schrank. Man musste nur aufschreiben, wie viel Geld man herausnahm, keinen Namen hinterlassen. Einmal in der Woche wurde die Kasse gefüllt, wenn nichts mehr da war, gab es nichts mehr. Jeder entschied für sich, wann er wie viel brauchte. Um mit der Zeit zu gehen, wurden 1997 Kreditkarten für alle eingeführt, das Prinzip blieb gleich. Jeder benutzt sie so, wie er es für richtig hält.

Wie überall, so ist man auch in Samar anspruchs­voller geworden. Die große Herausforderung bleibt der Umgang mit Bargeld, das man ja einfach mit der Karte abheben kann. Deshalb gibt es Richtlinien, wie viel eine Familie mit Kindern als Taschengeld braucht. Zusätzlich zu allen Grundleistungen wie Wohnen, Essen, Strom, Telefon, die allen Kibbutz-Mitgliedern selbstverständlich zur Verfügung gestellt werden.

Bloß: Man muss sich nicht an diese Richtlinien halten. Diese Entscheidungsfreiheit gehört zu den Grundprinzipien des Zusammenlebens. „Wir sind hierhergekommen, weil wir nicht wollten, dass andere für uns bestimmen“, sagen jene, die den Kibbutz mitbegründet haben. Deshalb geht es jetzt auch weniger darum, die Ausgaben zu beschränken, sondern darum, mehr Einkommensquellen zu schaffen.

Samar ist eine kleine industrielle Oase in der Wüste. Die Einkünfte stammen hauptsächlich aus dem Anbau von Biodatteln, andere Finanzquellen sind ein hochtechnologisiertes Sortier- und Verpackungssystem, eine Milchwirtschaft samt Kuhstall, der Vertrieb von Fertigrasen und Tourismus. Es gibt aber unter den Mitgliedern auch Lehrer und Psychologen, die außerhalb des Kibbutzes arbeiten und deren Gehalt in die Gemeinschaftskasse fließt. Neue Ideen sind immer willkommen. Man muss dafür aber auch Überzeugungsarbeit leisten.

Yair Sela sitzt schon früh morgens in voller Fahrradmontur auf seiner Terrasse und dreht sich eine Zigarette. Er ist verantwortlich für das Mountainbike-Inn, das er 2011 gegründet hat. Als er mit der Idee kam, sollte er erst einmal einen vernünftigen Geschäftsplan vorlegen. Er verwies auf den boomenden Tourismus in dieser Branche, sicherte sich die Unterstützung der Bezirksverwaltung, folgte den Spuren der Kamele, deren Wüstenpfade sich auch gut als Fahrradwege eignen. Geeinigt hat man sich schließlich auf die Einrichtung von sechs Gästezimmern, vorausgesetzt, dass nur organisierte Gruppen übernachten dürfen und das auch nur am Wochenende – und ohne allzu große Verweildauer. Herumspazierende Touristen will niemand haben.

Als Samar gegründet wurde, wusste man schon längst um die Schwachstellen der Kibbutz-Idee. Deshalb wollte man vieles anders machen. Das Gleichheitsprinzip wurde gewissermaßen subversiv umgesetzt, in Form eines radikalen Individualismus. Was nicht heißt, dass sich die menschliche Neigung zu Neid und Eifersucht leugnen oder gar einfach abstellen ließe. Hier findet nur ein anderer, offenerer Umgang damit statt.

„Wir sind nicht anders, bei allem guten Willen“, heißt es. „Aber uns ist mehr bewusst, wie solche Gefühle funktionieren. Empathie und rationales Denken lohnen sich.“

Und während andere Kibbutz-Gemeinschaften nach und nach umdachten und teilweise oder sogar ganz privatisiert wurden, blieb Samar sich treu. Selbstregulierung ist ein Wort, das oft fällt. Das Geheimnis der Problemlösung ist Kommunikation. Das ungeschriebene Regelwerk leitet dazu an, nichts grundsätzlich, sondern im Einzelfall zu entscheiden.

Assaf Holzer, 57, ist verantwortlich für das Wüsten-Studienzentrum, es bietet geführte Touren in der Region an. Er sitzt mit seiner Frau Ayelet in der offenen Küche ihres kleinen Hauses. In der Ecke steht eine Brotbackmaschine, auf dem Tisch steht eine Schale mit gekauften Biokeksen. Die Tochter im Teenager-Alter tippt gerade eifrig auf ihrem Smartphone. Eine einfache Sitzecke mit Blick aufs Plasma-TV möbliert das Wohnzimmer. Die Terrassentür ist weit offen, das bleibt sie auch, wenn sie bei der Arbeit sind. Zugesperrt wird auch der Haupteingang nie. Eine Idylle, wie man das – wenn überhaupt – nur noch aus Büchern kennt.

Assaf Holzer, der auch Finanzmeister von Samar ist, sieht das realistischer. „Das hier ist weder Paradies noch Utopie. Wir sind wie eine große Familie mit viel Autonomie. Wir sind alle Partner. Keiner erteilt dem anderen Befehle, sondern vertraut, dass die anderen machen, wofür sie sich verantwortlich fühlen.“ Vor sieben Jahren hat das Paar mit ihren drei Kindern etwa acht Monate lang in Indien verbracht, eine Auszeit auf Kosten des Kollektivs. Dafür mussten sie – anders als in „normalen“ Kibbutzim – kein Komitee vorher um Erlaubnis fragen, aber sich durchaus erklären. Das ist Teil der anarchistischen Struktur.

Holzer beschreibt ihr Funktionssystem so: „Weil man im klassischen Kibbutz nicht ständig alles aushandeln wollte, hat man ein Regelwerk erfunden, Gesetze. Hier in Samar ist es eher wie in einer Beziehung. Wir reden und reden und versuchen, zu einer Einigung zu kommen.“ Man müsse organisieren und überzeugen. Und weil die nackten Zahlen durchaus Anlass zur Sorge geben können, versuchte man in den letzten Monaten eine „Gruppe zusammenzubringen, die herausfinden soll, ob es Leute gibt, die ihre Zeit besser nutzen könnten“.

Ein paar Türen weiter wohnen Moshe, 62, und seine Frau Mazal. Es ist abends, und Mazal, die als klinische Psychologin arbeitet, bucht gerade ein Auto für den nächsten Morgen auf ihrem iPad. Sie muss zu einer Beerdigung im Zentrum des Landes. Der Computer rechnet und verschiebt die Samar zur Verfügung stehenden Fahrzeuge je nach zeitlichem Bedarf und Wegstrecke. Es gibt zwanzig Wagen. „Es kann sein, dass man gemeinsam fahren muss, aber irgendwie geht sich das immer aus“, sagt Mazal. Moshe war bereits in den 1970er-Jahren hier, arbeitet im Zentrum für Wüstenkunde und im Dattelgeschäft. Da man Volontäre beim Verpacken nach der Ernte braucht, überlegt er, ausländischen „Pensionären über 53“ einen dreimonatigen Aufenthalt anzubieten. Bevor er das annonciert, müsse er darüber noch mit den anderen reden.

Die menschliche Natur lässt sich aber auch in Samar nicht ganz abstellen. So gibt es trotz aller Freiräume auch hier Wertschätzung für jene, die viel arbeiten und wenig Geld ausgeben. Dies drücke sich in den Beziehungen aus, in der Art zu reden. Es gibt ein eingebautes Radarsystem für das, was geht und nicht geht. Dinge, die niemand gerne macht, müssen alle erledigen. Dazu gehören das Kochen und Spülen im Speisesaal oder das Saubermachen. Bei diesen Aufgaben wechselt man sich ab. Da darf sich keiner drücken.

Längst kann man hier nicht mehr von einer Testphase reden. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit.

Im Speisesaal gibt es schwarze Bretter voller Zettel. Sie sind das Kommunikationsmittel per se. Man erfährt, dass die interne Internetzeitung, Nr. 5, gerade erschienen ist und auch gedruckt erhältlich ist. Ein Aquarium wird gesucht, die Theatergruppe braucht Kulissen, die Suche nach Nachtwächtern im kommenden Monat ist durchgestrichen. Hat sich erledigt. Der Speisessaal ist abends gut besucht, die Köche an diesem Abend haben sich Mühe gegeben – Vorspeisen, Salate, Suppe, gefülltes Gemüse, Aufläufe. Auch das ist nicht immer so. Die Kinder spielen nach dem Essen draußen in der Abendhitze, die nicht mehr so drückend ist, die Erwachsenen sitzen drinnen an großen Tischen zusammen. „Der Raum ist nie zu“, sagt Ayelet Holzer. „Er ist das Zentrum unseres Lebens, bei uns funktioniert viel über Gespräche, Worte sind unser wichtigstes Mittel.“ Hinzu kommt das eigene Gewissen als Motor.

Längst kann man hier nicht mehr von einer Testphase reden. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Auf die Frage, warum in Samar gut geht, was an vielen anderen Orten gescheitert ist, geben die Mitglieder verschiedene Antworten. Ausreichende Finanzen, eine nicht zu große Gruppe und geografische Abgelegenheit, weil so die Energien vor Ort gebündelt bleiben. Lässt sich so ein historisches Projekt aber auch weiter in die Zukunft hinüberretten?

Innovation. Das weltweit erste solarbetriebene, hybride Gasturbinenkraftwerk im Kibbutz Samar.
Innovation. Das weltweit erste solarbetriebene, hybride Gasturbinenkraftwerk im Kibbutz Samar.

Was als ein Projekt rebellierender Jugendlicher begonnen hat, kommt jetzt in die Jahre. Die Gründergeneration nähert sich dem Pensionsalter. Bisher hat man damit noch keine Erfahrung. Immerhin war man klug genug, Rentenfonds anzulegen, um sich abzusichern. Das Alter ist ein heikles Thema. „Wir sind alle voneinander abhängig, das gemeinsame Eigentum ist nicht aufgeteilt. Alles gehört allen“, sagt Assaf Holzer. So lässt sich allerdings auch nichts vererben. Manchmal taucht das Thema Privatisierung auf. Solidarität werde auch schwieriger, wenn die eigenen Eltern, die ja in der Regel woanders leben, bedürftiger werden oder die Gesundheit angeschlagen ist. Kinder, die schon in Samar geboren wurden, können sich durchaus vorstellen, auch als Erwachsene hier zu leben. Aber erst einmal wollen sie eine Weile draußen sein, andere Erfahrungen machen.

Die Frage nach der Historizität ihrer Daseinsform stellt sich Yuval Kettner, 54, der seit zwanzig Jahren in Samar lebt. Er ist an diesem Vormittag zuhause, seine Frau ist seit sechs Uhr früh auf Dattelschicht. Der groß gewachsene Mann steht auf und holt ein Glas Dattelsirup – frisch produziert von seiner Tochter. Sie denkt gerade an eine kleine Fabrik zur Herstellung von Energiesnacks. Kettner fragt sich, ob ihr Modell eher ein Kreis sei, der von der nächsten Generation weiterverfolgt werde, oder eine Linie mit einem Anfang und einem Ende. Es sei beides, glaubt Yuval. „Unsere Schulden sind gering und wir haben Durchhaltevermögen.“

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