„Wir stammen alle von Adam und Eva ab“

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Über 600.000 Muslime leben in Österreich – die Geflüchteten der vergangenen beiden Jahre mit eingerechnet, werden es geschätzt bereits knapp 700.000 sein. Die Interessen der Muslime werden von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) vertreten. Um nicht nur über-, sondern auch miteinander zu sprechen, bat WINA IGGÖ-Präsidenten Ibrahim Olgun zum Gespräch.

Interview: Alexia Weiss, Fotos: Daniel Shaked

WINA: Österreich ist ein christlich geprägtes Land: darauf wird im aktuellen politischen Diskurs immer wieder hingewiesen. Sowohl Juden als auch Muslime haben aber eine weitaus längere Geschichte in diesem Land als solche Aussagen vermuten lassen würden. Worin sehen Sie weitere Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Muslimen?

Ibrahim Olgun: Wir Menschen vergessen leider in der heutigen Zeit vor allem, dass wir alle von Gott erschaffen und mit Würde und Vernunft ausgestattet sind. Das verbindet uns. Wir – Juden, Christen, Muslime sowie sämtliche Andersgläubigen – stammen alle von Adam und Eva ab. Leider ist diese Perspektive heutzutage verschwunden. Wir leben in Österreich, wir haben ein gemeinsames Land, das uns verbindet. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass wir eine ähnliche Glaubensgrundlage haben und gemeinsame Werte. Und wenn man dann näher ins Detail geht: wir haben beide spezielle Speisevorschriften, die Beschneidung und das Schächten.

Worin bestehen die gemeinsamen Interessen zwischen Juden und Muslimen?

Da wir alle in Österreich leben ist das wichtigste Interesse, dass wir alle hier eine Gemeinschaft bilden. Dazu gehört gegenseitiger Respekt und Wertschätzung, dass wir uns für ein friedliches Zusammenleben einsetzen, ohne Hass oder Gewalt. Dann gibt es in Österreich auch Schwierigkeiten, die uns beide betreffen: zum Beispiel, wenn wieder über Beschneidung oder das Schächten diskutiert wird. Hier müssen wir noch stärker als bisher zusammenarbeiten.

Ein großes Thema in der jüdischen Community ist Antisemitismus von muslimischer Seite. In manchen Ländern – zum Beispiel in Syrien, in Ägypten – werde dieser von klein auf vermittelt, räumen auch Muslime selbst immer wieder ein. Auf der anderen Seite wird von Muslimen weltweit der palästinensisch-israelische Konflikt als DAS Beispiel für muslimische Unterdrückung verwendet und es entsteht dadurch eine schlechte Stimmung gegenüber Juden weltweit. Welches Bild zeichnen Sie hier aus Ihrer Sicht?

Sie haben ein wichtiges Thema angesprochen, das nicht nur Juden betrifft, sondern auch uns Muslime. Antisemitismus, und wenn ich einen Schritt weitergehe, auch Islamfeindlichkeit, haben in Österreich stark zugenommen. Wir als Islamische Glaubensgemeinschaft verurteilen beide Feindbilder. Das ist das eine.

Zweitens: die Mehrheit der Muslime in Österreich verwechselt leider die Politik im Nahen Osten mit dem Judentum. Ich glaube nicht, dass die meisten Muslime in Österreich Antisemiten sind, sondern sie richten ihre Kritik gegen die Politik, die im Nahen Osten – auf beiden Seiten – gemacht wird, und die sie nicht in Ordnung finden. Wichtig ist daher meiner Meinung nach, dass die Politik anderer Länder nicht nach Österreich hereingetragen wird. Man sollte für die Politik Israels nicht Juden weltweit verantwortlich machen. Das wäre ungerecht.

Was macht die IGGÖ konkret, um Antisemitismus unter Muslimen entgegenzuwirken?

Wir haben in vielen Moscheen Referenten, die zum Thema Antisemitismus Sensibilisierungsarbeit machen. Wir haben seit vielen Jahren islamischen Religionsunterricht an den Schulen, da wird mit Bildung gegen Antisemitismus vorgegangen. Seit kurzem gibt es auch das wichtige Projekt Not in God’s Name, das wir als Islamische Glaubensgemeinschaft unterstützen. Und zuletzt haben private islamische Schulen Rabbiner eingeladen, damit islamische Jugendliche mehr vom Judentum erfahren. Es gibt hier sicher noch viel Bedarf etwas zu tun, aber wir sind auf einem guten Weg.

Wir planen künftig auch eine Imam- und Rabbiner-Konferenz. Das ist ein Dialogprojekt, das auf beiden Seiten Bewusstsein schaffen soll. Wir denken, dass es wichtig ist, nicht übereinander, sondern miteinander zu reden. Die Koordination liegt bei Imam Ramazan Demir seitens der IGGÖ und bei Rabbiner Schlomo Hofmeister von der IKG. Zudem gibt es seit kurzem eine großartige Initiative von Mitgliedern der IGGÖ gemeinsam mit Mitgliedern der IKG, wo auch Oberrabbiner Arie Folger dabei ist. Genau das brauchen wir – eine positive Einstellung, mehr Mut und Initiativen für das friedliche Miteinander.

Es gibt im Koran Stellen, die ein positives Bild von Juden beziehungsweise vom Verhältnis zu Juden zeichnen, und es gibt Stellen, die diskriminierend sind. Wie ist der Koran hier heute zu lesen? Und wie ist die tatsächliche Praxis?

Der Koran lobt und kritisiert lediglich die Handlungen der Menschen, aber nicht die Personen oder die religiösen Gruppen selbst. Das richtige Verstehen von unserem edlen Buch Koran ist eine große Herausforderung. Der Koran ist im Vergleich zur Tora oder der Bibel nicht chronologisch aufgebaut. Das heißt, wenn man über ein Thema eine Lehre ziehen möchte, muss man sich auch mit der islamischen Wissenschaft auseinandersetzen. Es genügt nicht, dass man eine Koran-Übersetzung liest. Der Koran erzählt die Geschichten von den alten Zeiten. Daraus sollen die Menschen Lehren ziehen. Daher ist es nicht richtig, wenn man Textpassagen aus dem Koran herauspickt, die Handlungen einzelner Menschen oder Gruppen einer bestimmten Religion kritisieren, verallgemeinert und als judendiskriminierend wiedergibt.

Was sind die Lehren, die Muslime heute aus der Schilderung negativer Erlebnisse mit Juden ziehen sollen?

Ich möchte jetzt keine Fälle pauschal mit positiv oder negativ etikettieren. Sehen wir uns ein paar Beispiele an. Da gibt es im Koran eine Stelle, wo Gott das gegenseitige Kennenlernen von Angehörigen verschiedener Religionen anspricht: „Oh ihr Menschen, wir haben euch als Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass wir einander kennenlernen möget“. Das ist ein Grundprinzip in unserer Religion. Unsere Religion sieht diese Vielfalt als eine Bereicherung, eine wichtige Gelegenheit, sich kennenzulernen, egal ob das jetzt ein Jude ist, ein Christ oder ein Muslim. Das sind wichtige Prinzipien, die uns alle bei diesem Vorhaben unterstützen würden.

Gott kritisiert aber im Koran manchmal auch Juden, Christen und selbst Muslime, wenn sie ein falsches Verhalten zeigen. Noch eine konkrete Stelle, die leider auch immer wieder falsch verstanden wird: Da heißt es „Nehmt die Juden nicht zu Freunden.“ Da sind aber eben nicht die Juden allgemein gemeint, sondern es geht um eine kleine Gruppe unter den damaligen Juden, die Hochverrat begangen haben. Man muss den Kontext verstehen.

Es geht also um die richtige Interpretation des Koran.

Ja, man muss das soziale Umfeld kennen, in welchem Zusammenhang wurde das gesagt. Leider betrachten auch so einige Muslime dieses soziale Umfeld nicht.

Hier gibt es also doch ein Defizit mancher Muslime in der Herangehensweise an den Koran? Und was tun Sie dafür, dass der Koran richtig gelesen wird?

Persönlich empfehle ich als Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft heutzutage niemandem, nur die Koranübersetzung alleine zu lesen. Das ist nicht ausreichend, um den Islam zu verstehen. Hätte der Koran alleine ausgereicht, hätte Gott den Menschen keinen Propheten schicken, der ihnen beigebracht hat, wie der Koran richtig zu verstehen ist. Man muss auch die Kommentare lesen, die Koran-Interpretationen von bedeutenden islamischen Gelehrten. Und auch Wissen um das Leben des Propheten Muhammed ist wichtig. Nur so kann man den Kontext richtig verstehen. Unser Prophet hat mit Juden und Christen in Frieden zusammengelebt. Das wissen heute viele Muslime nicht. So einiges im Koran ist situationsspezifisch zu lesen, andere Textstellen wiederum wortwörtlich, wenn es etwa heißt: „Gott ist der Allerbarmer“. Dann kommen auf der anderen Seite leider auch Islamhasser, die einzelne Sätze herauspicken und sagen, schau mal, was im Koran steht. Das kann ich aber auch in der Tora machen oder in anderen heiligen Büchern. Man kann alle Texte missbrauchen.

Können Sie in diesem Zusammenhang die Konzeption der „Ungläubigen“ erläutern?

Es gibt mit dem Begriff Kafir sehr viele Missverständnisse. Das Wort kāfir wird leider immer wieder fälschlicherweise als Ungläubiger übersetzt.

Was bedeutet es korrekt übersetzt?

Kafir heißt Nicht-Muslim. Aber Juden und Christen werden im Koran als „Ahl al-kitāb“, also als Besitzer der Schrift bezeichnet. Daher darf man Christen und Juden nicht als Ungläubige bezeichnen. Das ist eine große Respektlosigkeit und eine Abwertung, die wir nicht akzeptieren können. Das sind Gläubige wie wir, sie glauben auch an Gott.

Was hat es mit den Dhimmis auf sich?

Dhimmis sind die Schutzbefohlenen, die in der damaligen Zeit von einer islamischen Regierung geschützt wurden. Durch Entrichten einer Zusatzsteuer erhielten sie Sonderrechte, wie zum Beispiel den Entfall des Wehrdienstes.

Wie ist das im heutigen Kontext zu sehen? Und wie ist die Position gegenüber Atheisten?

Zum heutigen Verhältnis: wir sind in Österreich, in Europa. Heuzutage verwendet man diesen Begriff nicht mehr. Dieser Begriff hatte mehr einen sozialen Verwendungsgrund als ein islamisch-theologischer. Wir Muslime sind hier Teil der Gesellschaft, aber eine Minderheit, wie auch die Juden. Wir müssen schauen, dass wir überall auf der Welt in Geschwisterlichkeit leben, dass wir einander gegenseitig respektieren. Ich bin zudem der Meinung, dass man den Begriff Ungläubige überhaupt nicht verwenden soll. Das ist unhöflich gegenüber Menschen, die eine andere religiöse Zugehörigkeit haben, aber dennoch an Gott glauben. Und auch ein Atheist ist meiner Meinung nach ein Gläubiger, weil der auch glaubt, dass es keinen Gott gibt, wenn man so will.

Wird in den Moscheen und im Religionsunterricht der Begriff Ungläubige nicht mehr verwendet?

99 Prozent unserer Imame und ReligionslehrerInnen verwenden es nicht und wissen es auch, dass man diesen Begriff nicht verwenden soll. Aber schwarze Schafe gibt es überall.

Und wie sieht es mit dem Wort Kāfir aus?

Kāfir heißt ja nicht Ungläubiger, sondern Nicht-Muslim. Das wird verwendet.

Wenn nun in einer Moschee von Kāfir gesprochen wird, kommt das aber nun bei den Menschen als Ungläubiger oder als Nicht-Muslim an?

Das ist natürlich die Herausforderung. Deswegen muss man ja auch kommentieren und erklären. Das Wort Kāfir kommt von kufr. Kufr bedeutet „bedecken“. Kufr bedeutet aber zum Beispiel auch „undankbar sein“. Aber die hauptsächliche Bedeutung ist Nicht-Muslim. Im Arabischen gibt es viele Begriffe, die mehrdeutig sind. Wir versuchen in den Moscheen und im Religionsunterricht auf diese verschiedenen Bedeutungen einzugehen. Seit 1.400 Jahren hat man über den Koran über 350.000 Exegeseschriften geschrieben. Die meisten Übersetzungen nennen allerdings nur eine Bedeutung – daher sind wir ja auch gegen eine Einheitsübersetzung.

Der Islam, die Muslime sind aktuell insgesamt ständiges Thema der medialen Berichterstattung, und zwar in vielen Facetten: durch Kopftuchdebatte und Verschleierungsverbot, wenn es einen Terroranschlag in Europa gibt, durch die Politik in der Türkei. Wie geht es Ihnen als Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft damit?

Zutiefst verletzend ist, wenn man beobachtet, dass die Mehrheit der österreichischen Community zwischen Islam und Muslime nicht unterscheidet, zwischen Tradition und Religion nicht unterscheidet und alles in einen Topf wirft. Der Islam ist eine friedliche Religion, auch die absolute Mehrheit der Muslime ist friedlich. Aber dann will man uns zur Verantwortung ziehen für Dinge, für die wir nichts können und über die wir genauso entsetzt sind. Da kommt, dass friedliche Muslime von diesen Terroristen, wie in Syrien oder im Irak massakriert werden. Die meisten Todesopfer des so genannten IS sind Muslime.

Zudem macht es uns sehr traurig, wenn wir immer wieder zu Politik bei uns und in anderen Ländern, der Türkei zum Beispiel, befragt werden. Wir sind eine unabhängige Glaubensgemeinschaft und keine politische Einrichtung. Wir sind zuständig für die religiösen Bedürfnisse der Muslime in Österreich.

In der öffentlichen Debatte gibt es verschiedene Begriffe, die teils synonym verwendet werden, obwohl sie Verschiedenes beschreiben. Können Sie kurz und knapp die folgenden Begriffe Ihrerseits definieren und voneinander abgrenzen: Islam, Islamismus, Dschihadismus, Salafismus.

Die meisten dieser Begriffe sind heute missverständlich belegt. Zum Beispiel Islamismus. Viele Menschen, auch Muslime, unterscheiden nicht zwischen Islam und Islamismus. Viele assoziieren beim Buddhismus den Buddhisten, beim Christentum den Christen und beim Islam den Islamisten. Islam ist die Religion. Islamismus ist der Missbrauch dieser Religion. Ich würde statt dem Begriff Islamismus lieber den Begriff Extremismus verwenden.

Dschihadismus?

Der richtige Dschihad bedeutet, sich anzustrengen, gute Werke zu tun. Dschihadismus ist also wieder ein Missbrauch durch eine Person oder eine extremistische Gruppe. Menschen glauben, wenn sie ein Schwert in ihre Hand nehmen, dann machen sie Dschihad. Nein, sie machen Terror. Ich würde statt Dschihadismus den Begriff Terrorismus verwenden.

Salafismus?

Das Wort Salaf bezeichnet die ersten drei Generationen nach unserem Propheten Muhammed. Dieser Begriff ist eigentlich nicht negativ geprägt. Aber bei den heutigen Neo-Salafisten – da ist die Frage: meinen wir damit die ISler? Oder meinen wir die Salafisten, die auf den Straßen den Koran verteilen? Da muss man differenzieren. Den Leuten, die auf der Straße Koran verteilen, zu unterstellen, das sind alles Extremisten, das geht nicht. Nicht jeder Salafist ist ein Extremist. Aber es gibt einige Extremisten, die von der Salafistenszene kommen.

Was machen Sie als Glaubensgemeinschaft, um Extremismus entgegenzuwirken?

Wir leisten hier seit vielen Jahren Sensibilisierungsarbeit in den Moscheen, im Religionsunterricht, damit unsere Mitglieder, vor allem Jugendliche, nicht an die falschen Gruppen geraten. Wir sind auch in der Gefängnisseelsorge aktiv, derzeit sind rund 1.800 Muslime in Haft. Es gibt 46 Seelsorger – wobei die gesamte Arbeit ehrenamtlich geleistet wird. Leider haben wir hier nicht genügend Ressourcen. Zuletzt haben wir in Moscheen gesammelt, um die Gefängnisseelsorge zu unterstützen. Auch diesen Beitrag von Muslimen in Österreich muss man wertschätzen. Aber wir brauchen dringend hauptberufliche Seelsorger in den Gefängnissen und da bitten wir die Regierung seit Jahren um Unterstützung. Derzeit sind wir dazu mit Ministerien im Gespräch.

Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Menschen wurde allerdings wegen Extremismus verurteilt. Warum ist Gefängnisseelsorge dennoch wichtig?

Erstens befinden sich auch ein paar Rückkehrer in den Gefängnissen. Man muss sie wieder in die Gesellschaft integrieren.

Bei den anderen geht es um Präventionsarbeit, damit sie sich nicht in Haft radikalisieren.

Jugendliche außerhalb der Gefängnisse werden oft über das Internet radikalisiert. Sie erreichen sie weder in den Moscheen noch im Religionsunterricht.

Was soziale Medien betrifft, ja, da haben wir noch einigen Aufholbedarf. Das ist allerdings ein internationales Problem. Da braucht es auch eine internationale Lösung. Erstens sollten diese Videos – da sind Google und Youtube gefordert – aus dem Netz entfernt werden und extremistische Texte und Aufrufe ebenso. Aber hier sind auch wir gefordert, unsere Friedens-Predigten auf den social media zu verbreiten. Im deutschen Sprachraum gibt es leider einige Hassprediger, denen man etwas entgegensetzen muss.

Die Außenwirkung beeinflusst immer auch die Haltung im Inneren: Stichwort Kopftuchdebatte. Dazu gibt es in Österreich den Regierungsbeschluss, dass religiöse Kopfbedeckungen in manchen Teilen des öffentlichen Diensts (Exekutive, Justiz) nicht erlaubt sind und auf europäischer Ebene ein Urteil, wonach es privaten Unternehmen erlaubt ist, auf neutrales Erscheinen der Mitarbeiter zu bestehen. Just in diese Debatte platzte die Nachricht, dass es eine Empfehlung eines Gremiums der Islamischen Glaubensgemeinschaft gebe, wonach Muslimas Kopftuch tragen sollten, worauf Frauenreferentin Carla Amina Baghajati umgehend meinte, das Kopftuch beruhe auf Freiwilligkeit.

Diese Debatte haben wir Monate lang in der Öffentlichkeit geführt. Wir wollen dieser Diskussion jetzt eigentlich ein Ende setzen. So viel kann ich aber sagen: so wie die Kippa für die religiösen Juden ein Gebot ist, ist auch das Kopftuch im Islam ein religiöses Gebot. Aber das ist kein Widerspruch zum Selbstbestimmungsrecht der Frau. Unsere Religion zwingt niemanden, sich an die religiösen Vorschriften zu halten. Ja, unser Beratungsrat, unser theologisches Gremium, hat kürzlich das bestätigt, was all die Gelehrten schon immer seit 1400 Jahren gesagt haben, was klar sowohl im Koran als auch in der Sunna verankert ist. Sie haben Musliminnen damit nicht verpflichtet, dass sie nun Kopftuch tragen müssen. Sie haben nur das Thema an Hand von islamischen Quellen erläutert und wiedergegeben. Das ist als Reaktion auf die Politik zu sehen.

Einige Politiker sind gekommen und haben behauptet, das Kopftuch sei ein Symbol. Daher mussten wir das noch einmal öffentlich richtig stellen und aufklären, weil unsere Damen, die Kopftuch tragen, darunter leiden. Das Kopftuch ist eine Religionsausübung, wobei ich betonen möchte: Für uns ist es wichtig, was man im und nicht was man auf dem Kopf hat. Auch die nicht Kopftuch tragenden Musliminnen können gute Musliminnen sein. Und Kopftuchtragende können auch schlechte Musliminnen sein. Das Äußerliche ist nur ein Teil unserer Glaubenspraxis. Vorrangig geht es um Glauben und ethische Werte.

Im März gab es im Kanzleramt einen Religionsgipfel. Was waren Ihre Eindrücke? Was wünschen Sie sich Ihrerseits von der Politik, aber auch von den anderen Glaubensgemeinschaften?

Es war ein freundliches Dialoggespräch auf gleicher Augenhöhe. Wenn wir mehr ins Gespräch kommen durch solche Gipfel, können wir Missverständnisse ausräumen und Probleme lösen. Das ist genau der Punkt: wir sollen miteinander sprechen, nicht übereinander – also uns nicht Dinge über die Medien ausrichten. In Richtung der Politik möchte ich sagen: wie unsere Glaubenslehre auszulegen ist, das ist unsere innere Angelegenheit. Politik soll sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Religion einmischen.

Ibrahim Olgun ist seit 2016 Präsident der IGGÖ.

Von den Medien wünschen wir uns, dass islamische Themen sensibler dargestellt werden. Die Mainstream-Muslime in Österreich sind friedlich, aber die kommen in den Zeitungen fast nicht vor. Dort steht nur: IS, IS! Das fördert Panik und Angst in der Gesellschaft. So kommt es dann zu Umfrageergebnissen, wie zuletzt vom ÖIF (Österreichischen Integrationsfonds), wonach zwei Drittel der befragten Österreicher den Islam als Gefahr sehen.

In London gab es kurz nach dem Anschlag vor dem Parlament eine Kundgebung muslimischer Frauen mit Kopftuch, die sich gegen terroristische Gewalt aussprachen. Dieses Bild ging um die Welt. Solche sichtbaren Zeichen gibt es von Muslimen in Österreich nicht.

Wir haben ja in Österreich Gott sei Dank auch keinen IS-Terroranschlag gehabt. Wenn man auf die Homepage der Glaubensgemeinschaft geht, kann man unsere Aussendungen nachlesen. Aber die wenigsten Medien bringen das. Eines aber noch: viele Leute sagen, warum distanziert ihr euch nicht. Erstens: wir distanzieren uns. Zweitens gibt es aber auch sehr viele Muslime, die sagen: ich kann mich nur von einer Sache distanzieren, wenn ich dazugehöre, und da ich nicht dazugehöre, brauche ich mich auch nicht distanzieren.

Umgekehrt werden auch wir vom IS bedroht. Kürzlich hat der IS einen offiziellen Todes-Aufruf veröffentlicht, in dem unsere IGGÖ als Unislamische Glaubensgemeinschaft bezeichnet wird und worin es heißt, dass all unsere Funktionäre der IGGÖ abgeschlachtet, überfahren, zerbombt werden sollen. Alle Funktionäre und damit auch ich sollen als vom Glauben Abgefallene umgebracht werden. Drei prominente Mitglieder der IGGÖ wurden sogar namentlich erwähnt.

Wie gehen Sie mit dieser Bedrohung um?

Dieser Aufruf ist schockierend. Wir sind natürlich sehr besorgt. Auf der anderen Seite ist das ein Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Genau deshalb brauchen wir auch mehr Unterstützung von der Gesellschaft, den anderen Religionsgemeinschaften, den Medien und vom Staat im Kampf gegen den Extremismus.

derislam.at

Ibrahim Olgun, geb. 1987 in Mistelbach/Niederösterreich als Sohn eines türkischen Gastarbeiters, 2007 Matura an einer HTL in Wien, danach Präsenzdienst beim Bundesheer. Von 2008 bis 2012 Theologiestudium an der Ankara Universität, von 2013 bis 2014 Integrationsbeauftragter bei ATIB (Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich), seit 2014 Fachinspektor für islamische Religion in Wien und zweiter stellvertretender Leiter des Schulamts der IGGÖ. Seit Juni 2016 Präsident der IGGÖ.

1 KOMMENTAR

  1. „So viel kann ich aber sagen: so wie die Kippa für die religiösen Juden ein Gebot ist, ist auch das Kopftuch im Islam ein religiöses Gebot.“

    Das Tragen von Kopftüchern ist auch im orthodoxen Judentum ein religiöses Gebot. Gerade in Israel kann man massenhaft orthodoxe Frauen sehen, die mit Kopftuch herumlaufen. Das sollte auch öfters erwähnt werden.

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