Das Wunder der Rückkehr zum Leben

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Ein Symposium der Misrachi Wien befasste sich mit der spirituellen und religiösen Lage der Juden unmittelbar nach der Schoah. Von Marta S. Halpert   

Wo stand das jüdische Volk am Ende der Schoah?“, lautete die zentrale Frage eines zweitägigen Symposiums, das von der Misrachi Wien gemeinsam mit dem Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien (VWI) und dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) zum 70. Jahrestag des Kriegsendes veranstaltet wurde. Zwei Jahre arbeitete Nechemja Gang, Präsident der Misrachi Wien, an den Vorbereitungen für dieses Thema: „Diese Rückkehr in das quasi normale Leben hat mich sehr beschäftigt: diese Kraft des Geistes, die es schaffte, die erlittene Gewalt zu überwinden.“ Gang gelang es, zwei angesehene Wissenschaftler aus Israel und mehrere Experten aus Österreich für die Erörterung dieser Fragen zu gewinnen.

„… diese Kraft des Geistes, die es schaffte, die erlittene Gewalt zu überwinden.“ Nechemja Gang, Präsident der Misrachi Wien

v4In seinem Impulsreferat Der Beginn der Erfassung der Schrecklichkeit der Schoah beleuchtete der Historiker Dan Michman, Leiter des International Institute for Holocaust Research in Yad Vashem und Professor an der Bar Ilan Universität, die Schwierigkeiten, Berichte über die unmittelbare Zeugenschaft nach der Schoah zu sichern. „Die Frage nach dem Sinn des neuen Daseins wurde für die Einzelnen zum größten Problem. Falls sie aus den DP-Lagern überhaupt in die alte Heimat zurückwollten, folgte der nächste Schock. Dort begegneten sie dann der gleichen Ablehnung und Diskriminierung wie vor der Deportation“, so Michman, der 1947 in Amsterdam geboren wurde und mit zehn Jahren nach Israel kam. Die Überlebenden wurden in ihren früheren Wohnorten zumeist sehr kühl und widerwillig empfangen. „Die Sowjetunion unterstützte die Gründung des Staates Israel 1948 nur, weil sie nicht wollte, dass die Juden in das von ihnen okkupierte Osteuropa wieder integriert werden“, weiß der Sohn von Joseph Michman, der 1957 zum Direktor von Yad Vashem ernannt wurde. Während Fragen der Identität unter den Juden vor der Schoah keine wichtige Rolle spielten, gewannen diese nach den gemeinsam erlebten Schicksalsschlägen sehr wohl an Bedeutung. „Die ersten Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und der Aguda waren die auffallendsten Anzeichen einer Rückkehr zum normalen Leben“, lacht Dan Michman.

Gemeinschaftsgefühl

Mehrere Faktoren, die zur religiösen und spirituellen Rehabilitation der Überlebenden beigetragen haben, zählte Ester Farbstein auf, Direktorin des Holocaust Education Center Michlalah Women’s College: „Die Befreiung brachte die erste Begegnung mit den ‚Juden von draußen‘ und die Botschaft ‚Ihr seid nicht allein‘. Das waren die jungen Juden, die in der US-Armee und der englischen Brigade dienten, und ihre Militärrabbiner, die sofort aktiv wurden und das Gemeinschaftsgefühl dieser lange isolierten Menschen wiederbelebten.“ Im Laufe des Jahres 1946 änderten die Befreiungsarmeen ihre Politik und Besuche in den DP-Lagern wurden möglich. Jüdische Persönlichkeiten aus der freien Welt, darunter David Ben-Gurion und berühmte Rabbiner, kamen mit Delegationen zu den Traumatisierten.

Wie die Thoragelehrten nach der Schoah bemüht waren, den Agunot zu helfen, verwitweten Frauen, deren Ehemänner verschollen waren, erläuterte Joseph Pardess, Rabbiner der Misrachi, anhand beispielhafter Schicksale. Die österreichischen Wissenschaftlerinnen Eleonore Lappin-Eppel und Evelyn Adunka rundeten das Bild mit ihren Berichten über den mühsamen Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Österreich ab. ◗

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