Zeit, Raum und Beziehung

Das ist, was Susi Schrott in der Alten Trafik am Volkertmarkt Kindern und Jugendlichen bietet, die meist einen Migrationshintergrund haben und sonst auf wenig Verständnis für die eigene Person und Interesse an den eigenen Problemen stoßen.

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© Reinhard Engel

Aliya ist die Vorfreude anzumerken: Vergnügt springt sie mit ihrer Freundin umher, schwingt einen kleinen Sack. Darin befindet sich ihr Schwimmanzug, denn es geht bald ins Augarten-Bad. Etwas ungeduldig sind die Mädchen schon, denn sie müssen warten, bis mehrere Kinder da sind, um dieses Freizeitvergnügen angehen zu können. Der achtjährige Ahmed ist der einzige Bursche hier, auch er möchte Aufmerksamkeit: „Allah ist der einzige Gott, Allah ist der einzige Gott“, singt er laut – und schon wandern einige Augenpaare zu ihm. Eher gelassen und routiniert beo­bachtet Susi Schrott das Geschehen, denn im Vergleich zu den Veranstaltungen, die hier im Jugendtreff am Volkertmarkt oft mit bis zu 80 Jugendlichen stattfinden, ist das heute eine leichte Übung.

„Was wir hier den Jugendlichen zwischen zwölf und 21 Jahren bieten, das ist Zeit, Raum und Beziehung“, erzählt die Leiterin des Jugendtreffs alte Trafik (J.at). „Wir sind die untypischen Erwachsenen für die Kinder, denn wir fungieren weder als Lehrer, Eltern oder Verwandte. Wir schaffen ein geschütztes Umfeld, in dem sie zu uns kommen und hier alles abladen können“, lacht Susi Schrott, die aus langjähriger Erfahrung in der Jugend- und Sozialarbeit schöpfen kann. Hier im dicht verbauten Volkertmarkt-Viertel im zweiten Bezirk sind viele Kinder nach der Schule sich selbst überlassen. „Sie kommen freiwillig, um zwanglos andere Jugendliche zu treffen oder um an bestimmten Programmen teilzunehmen“, erklärt Schrott, die ein abgeschlossenes Studium in Sozialmanagement und Leadership (MBA) hat.

Der begeisterten Wienerin, Jahrgang 1964, war diese Laufbahn aber nicht unbedingt vorgezeichnet. „Mein Vater wollte, dass ich Jus studiere, so habe ich nach dem Gymnasium damit begonnen. Aber irgendwie wurde ich mit dem Fach nicht wirklich warm. Als ich dann bei den Vorlesungen immer mehr Burschenschafter gesehen habe, wusste ich, das ist nicht meins.“ Schrott wuchs im 14. Bezirk in einer sozialdemokratischen Familie auf: „Meine Großmutter ist bis zu ihrem 80. Lebensjahr für die Sektion kassieren gegangen und Bruno Kreisky war ihr Abgott. Wir haben viel gestritten, denn ich war bei den Protesten in Hainburg dabei.“ An der Universität begann sie bereits, Basisgruppen zu organisieren und politisch aktiv zu werden. Sie machte einen Studienwechsel hin zu Politikwissenschaft, Psychologie und Päda­gogik. Es folgten Ausbildungen in Spielpädagogik, Supervision und Mediation. Gleichzeitig arbeitete Schrott bereits bei den Kinderfreunden, als Schilehrerin sowie auf der Baumgartner Höhe mit Menschen mit Behinderungen und alten Menschen. „Aber richtig wohlgefühlt habe ich mich in der Jugendarbeit, egal ob bei der Gewerkschaftsjugend, den Roten Falken oder der SJ. Deshalb habe ich auch die Jugendleiterschule beim Verein Wiener Jugendzentren absolviert, wo ich auch meinen ersten Job bekam“, erinnert sich Schrott.

»Wir sprechen hier alle Deutsch […].
Manchmal geht das nur
mit Händen und Füßen –
aber die Verständigung klappt.«
Susi Schrott

Sie arbeitet bereits seit 30 Jahren – nur mit Karenzpause – im Verein der Wiener Jugendzentren. Dieser gemeinnützige Verein besteht seit 1978 und ist der größte professionelle Anbieter von offener Kinder- und Jugendarbeit in Wien. Derzeit werden mit etwa 300 Beschäftigten rund 40 Einrichtungen und Projekte betrieben und großteils von der MA 13 der Stadt Wien finanziert. Der Jugendtreff alte Trafik (J.at) am Volkertmarkt, den Susi Schrott seit 2014 mit einem achtköpfigen Team aus Sozialarbeitern leitet, besteht aus einem großen Betonkobel mit vorgelagertem Ballspielplatz und wenig Grünfläche. Dennoch werden auf fast 200 m² ein Jugendcafé, eine Küche und diverse Gruppenräume geboten. Tischtennistisch, Wuzzler, Computer, Musikanlagen und reichlich Tischspiele und Outdoorgeräte stehen kostenfrei zur Verfügung.

Susi Schrott nimmt sich Zeit für jene Kinder, deren Mütter meist über-
fordert sind. © Reinhard Engel

Doch nicht die Geräte stehen hier im Mittelpunkt. „Es geht um Vertrauensaufbau und echte Beziehungsarbeit“, formuliert es Schrott, „weil es Mädchen gibt, die mit ihren Problemen weder zu ihrer Mutter, geschweige denn zum Vater gehen können. Sie kaufen sich einen Schwangerschaftstest und haben niemanden, um darüber zu reden. Da kommen sie zu uns. Wir können dann über ihre Situation sprechen.“ Die Jugendlichen haben zu neunzig Prozent Migrationshintergrund: „Wir sprechen hier alle Deutsch, auch wenn syrische, afghanische, türkische oder bosnische Kinder in den Jugendtreff kommen. Manchmal geht das nur mit Händen und Füßen – aber die Verständigung klappt.“

Welche Veränderungen hat sie in den dreißig Jahren wahrgenommen? Klappt die Integration besser? „Leider hat sich seit meiner Zeit im dritten Bezirk, wo es eine große Gemeinde an türkischen Gastarbeitern gab, beim Großteil der Mütter wenig verändert“, erzählt Schrott. „Der Bildungsgrad der Mütter, die zu Hause bleiben, ist ziemlich niedrig, und sie sprechen nicht gut Deutsch. Deshalb übernehmen die Kinder manche nicht kindergerechten Aufgaben, die sie meist mental überfordern, gehen mit der Mutter zum Frauenarzt oder ins Spital, um zu übersetzen.“ Die große Ausnahme bilden die tschetschenischen Kinder, deren Familien sehr bildungsaffin sind und großteils selbst über einen hohen Bildungsgrad verfügen.

Identitätsfindung und Likrat. Seit über zehn Jahren und mit dem Aufkommen der IS beobachtet Susi Schrott eine beunruhigende Tendenz: „Die Dialogfähigkeit unter den Jugendlichen wird in dem Moment unterbrochen, wo Religion politisiert wird. Das finde ich ganz fürchterlich. Jeder soll seine Religion frei ausüben, weil es auch für die Selbstfindung und Identität wichtig ist“, meint die engagierte Pädagogin. „Ich halte ja auch viel von meiner jüdischen Tradition. Deshalb war ich so froh, als unser Sohn weiter in die ZPC-Schule gehen wollte. Dort kann er seine Identität voll ausleben.“ Hier versuchen Schrott und ihr Team, bestehend aus Radikalisierungsexperten und Sozialarbeiterinnen, über zahlreiche Gespräche die Themen von der persönlichen auf eine Metaebene zu heben. „Über Religion kann man nicht diskutieren, man kann nicht sagen, was falsch oder richtig ist. Wir versuchen es deshalb mit konkreten Beispielen, wie: ‚Du schreibst einen Artikel, willst ihn veröffentlichen und wirst dafür eingesperrt, wie z. B. in der Türkei.‘ Wenn ich einen ganzen Strauß an möglichen Wahrheiten darlege und sie motiviere, vermeintliche Fakten zu hinterfragen, setzt differenziertes Denken ein.“

Neue Wege beschreitet Schrott, indem sie den Jugendlichen einen breiteren Zugang zu Allgemeinwissen und Informationen über das Judentum ermöglicht. „Wir haben ein sehr beliebtes Format, das Freitagsgespräch: Das sitzen wir in einer lockeren Runde beisammen und zwei von uns bringen diverse Themen ein und leiten das Gespräch. So habe ich Likratinos aus dem Likrat-Programm der IKG eingeladen, die sonst nur an Schulen gehen, auch bei uns Fragen zum Judentum zu beantworten.“ Wegen Schabbat wurde das Treffen auf den Donnerstag verlegt und sechzehn junge Menschen zwischen 14 und 18 Jahren haben dann Fragen gestellt. „Israel oder Gaza wurde überhaupt nicht angesprochen. Es interessierten sie viel mehr Fragen zur Religion und Lebensweise: Ist Abraham bei euch auch ein Prophet? Wie schaut euer Gebetbuch aus? Wann und wie oft betet ihr? Was ist koscher? Ich habe koschere und Halal-Gummibärchen gekauft, dann wurde gegenverkostet. Wenig überraschend: Jeder Gruppe schmeckte das eigene besser.“

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