Bis zum heutigen Tag

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Sie überlebten die Schoa, fingen das Leben neu an, gründeten Familien und sehen ihre Enkelkinder aufwachsen. Sie sind letzte Zeugen, die von Vernichtung und Hoffnung erzählen. Text & Fotos: Tamar Ehlers

LAJCSI & JUDITH LANCZMANN

Judith Lanczmann und ihre Mutter konnten sich mit Hilfe von gefälschten Papieren als Arierinnen ausgeben und überlebten so die NS-Besatzung in Budapest. Um nicht aufzufallen färbte sich Judiths Mutter die Haare blond und achtete darauf, sich in der Öffentlichkeit gemäß ihrer falschen Identität zu verhalten. Im Keller ihres Hauses versteckten Judith und ihre Mutter acht Menschen und retteten sie so vor den Nazis.

Als die Nazis kamen, um Lajcsi Lanczmanns Familie zu holen, hatte er seine Heimatstadt, das ungarische Abaúj­szántó, bereits verlassen, um bei seinem Onkel in Miskolc eine Lehre zu machen. Seine Eltern und Geschwister wurden ins Ghetto von Košice und anschließend nach Auschwitz deportiert. Sie überlebten das Konzentrationslager nicht. Lajcsi musste in Budapest Arbeitsdienst leisten. Von dort aus wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert und später nach Magdeburg. Nach seiner Befreiung nahm sich ein jüdischer US-Offizier seiner an und sperrte Lajcsi, der nur mehr 37 kg wog, für eine Woche ein, um ihn zu pflegen.

„Vor jeder katholischen Kirche stieß ich meine Mutter in die Rippen, damit sie nicht vergaß, sich zu bekreuzigen.“

Bild: Lajcsi & Judith Lanczmann haben sie sieben Enkelkinder, hier mit Ben, Gidi, Liana und Elijah. 


MARTIN & RITA VOGEL

Martin und Rita Vogel wurden von ihrer christlichen

Rita Vogel wurde in Lemberg geboren. Bis auf ihre Schwester und sie selbst wurde ihre gesamte Familie von den Nazis ermordet. Die beiden wurden von ihrer christlichen Amme gerettet und 1946 von ihrem Onkel und ihrer Tante aufgenommen.

Martin Vogel wurde in Wien geboren und ging hier zur Schule, bis er diese 1938 verlassen musste. Er war Leiter des Hashomer Hatzair, der wie andere zionistische Jugendbewegungen unter den Augen der Gestapo seinen Tätigkeiten vorübergehend nachgehen konnte. Im Jahr 1940 wurden diese dann verboten und Jugendliche aus den Jugendbewegungen zu sog. Arbeitseinsätzen in Arbeitslager geschickt. Der Hashomer Hatzair blieb – nunmehr illegal – weiterhin aktiv, bis er 1942 von den noch verbliebenen Mitgliedern selbst aufgelöst wurde. Martin Vogel musste schließlich Zwangsarbeit für die Deutsche Wehrmacht leisten.

Martin und Rita Vogel lernten sich auf einem Camp der jüdischen Hochschüler in Edlach kennen.

„Von Tag zu Tag wurden wir immer weniger. Keiner konnte wissen, wie viele von uns beim nächsten Mal noch dabei sein werden.“

Bild: Martin und Rita Vogel  mit ihrer Enkelin Julie. 

HELGA FELDNER-BUSZTIN

Helga Feldner-Busztins Mutter galt laut der Nürnberger Gesetze als Mischling 1. Grades. Dies machte Helga zu einem Mischling 2. Grades, und somit blieb sie bis zu ihrem 14. Lebensjahr von der Deportation verschont. Mit 14 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Ihre Mutter und ihre kleine Schwester fuhren freiwillig mit. Dort musste Helga auf dem Feld arbeiten und entging zweimal durch einen Zufall unwissentlich der Deportation nach Auschwitz. Beim dritten Mal half ihr auf Bitten ihrer Mutter ein einflussreicher nicht jüdischer Landwirt. Er erwirkte ihre Befreiung vom Transport nach Auschwitz. Alle drei überlebten das Konzentrationslager und fanden nach dem Krieg auch Helgas Vater wieder, der Auschwitz überlebte.

„In der letzten Zeit bin ich als Zeitzeugin sehr gefragt, da wir immer weniger werden.“

 Bild: Helga Feldner-Busztin hat 11 Enkelkinder, hier mit Joni, Nunu, Laura, Gina, Rafi, Anna und Adam. 

HELENE WANNE

In Innsbruck geboren, musste Helene Wanne 1939 ihre Heimatstadt, die nunmehr „judenfrei“ sein musste, verlassen und mit Mutter und Schwester nach Wien ziehen. Ursprünglich waren die beiden Mädchen für einen Kindertransport nach England registriert worden. Doch es kam anders, und so ging Helene in Wien in die ZPC-Schule. Ihrer Schwester gelang auf dem Kladovo-Transport die Flucht nach Palästina auf dem Seeweg. Kurz nach ihrem Abschluss wurde die Schule, die bereits seit 1939 offiziell geschlossen war, von den Nazis in Besitz genommen. Von da an diente sie als Sammeleinrichtung für Juden, die in Konzentrationslager deportiert werden sollten. Nach ihrem Abschluss arbeitete Helene mit anderen jüdischen Mädchen und jüdischen Frauen aus Mischehen in einer jüdischen Kürschnerei, die von den Nazis zu einem Wehrmachtsbetrieb umfunktioniert worden war. Dort fertigten sie Luftschutzbrillen, Fliegerwesten und Mäntel für die Soldaten an. Helene arbeitete den ganzen Krieg über in diesem Betrieb. Während um sie herum jüdische Verwandte, Freunde und Bekannte in Konzentrationslager deportiert wurden, blieben sie und ihre Mutter von den Nazis verschont. Sie weiß bis heute nicht genau, warum sie einen geschützten Status hatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte es jedoch etwas damit zu tun, dass Helenes Mutter in einem jüdischen Spital als Krankenschwester arbeitete. Es war während des gesamten Krieges in Betrieb (1942 musste es allerdings wegen der Beschlagnahmung des Gebäudes durch die Nazis umsiedeln) und war das einzige Krankenhaus, das seit 1939 Juden aufnahm.

„Ich weiß bis heute nicht, nach welchem Schema man die Menschen zu ‚Geschützten‘ auserwählt hat und wieso gerade wir geschützt waren.“

Bild: Helene Wanne mit ihren Enkelkindern, Caro und Daniel.


HERBERT SCHROTT

Herbert Schrott ging bis 1939 in die ZPC-Schule in Wien. Im Jahr 1942 wurde er mit seinen Eltern nach Theresienstadt deportiert. Nach zwei Jahren brachte man zuerst ihn und seinen Vater, dann auch seine Mutter nach Auschwitz. Wenig später wurden Vater und Sohn nach Kaufering, das Unterlager von Dachau, verlegt. Sein Vater starb dort im März 1945 an Schwäche und Erschöpfung. Nach seiner Befreiung erholte sich Herbert Schrott in Bad Tölz am Tegernsee, wo er und viele seiner Kameraden von der U.S. Army verpflegt und betreut wurden. Schließlich machte er sich zu Fuß auf die Suche nach seiner Mutter. Von München aus ließ ihn eine U.S.-Sanitätskompanie bis nach Salzburg mitfahren und setzte ihn dort mit einem Fahrrad ab, das ihm ein jüdischer U.S.-Offizier geschenkt hatte. Abgemagert, kahl geschoren und verletzt von einem Fahrradsturz suchte er wenig später bei einer Bauernfamilie in Vöcklamarkt Schutz. Sie nahm ihn auf und verpflegte ihn. Als er etwa sechs Wochen später Gewissheit über den Verbleib seiner Mutter hatte, fuhr er nach Wien und fand sie dort schließlich.

„Ich kam in Wien an und fand den Westbahnhof in Trümmern. Das war herrlich.“

Bild: Herbert Schrott hat drei Enkelkinder, hier mit Samy.


SUSI GUTTMANN

Susi Guttmann wurde in Wien geboren und ging bis zur 1. Klasse in die Schule, wo sie wie alle anderen jüdischen Kinder schikaniert wurde. Eines Tages wurde ihre Familie aus ihrer Wohnung geworfen. Susis Vater wurde nach Dachau deportiert. Da ein Einreiseantrag in die USA (bis zum Jahr 1953) unbeantwortet blieb, flüchtete die Familie nach Shanghai, wohin zur damaligen Zeit die Einreise ohne Visum möglich war. Dort lebte die Familie so wie Tausende von jüdischen Flüchtlingen unter furchtbaren Lebensumständen im Ghetto. 1948 wurden sie von dort vertrieben und gemeinsam mit anderen Emigranten zurück nach Österreich gebracht. In Wien angekommen, musste die Familie zunächst in einem überfüllten Obdachlosenheim leben, bis die Eltern – der Vater hatte das KZ in Dachau überlebt – es schafften, langsam auf die Beine zu kommen.

„Ich habe keine Wurzeln. Das Vaterland, das Österreich uns einst gewesen war, gibt es nicht mehr.“

Bild: Susi Guttmann hat 12 Enkelkinder und 18 Urenkel, hier mit Bini, Ella, Lia und Lara.


ERICH „ARIE“ EHLERS

Erich Ehlers kam 1940 in Wien zur Welt. Zu dieser Zeit versteckten sich bereits sein Vater, seine Mutter, seine Großmutter und sein einjähriger Bruder in einer Kellerwohnung im 5. Wiener Gemeindebezirk. Erichs Mutter, die selbst keine Jüdin war, verließ das Versteck, um ihn, so wie ein Jahr zuvor seinen Bruder und später seine Schwester, in einem Krankenhaus zur Welt zu bringen. Die Bewohner des vierstöckigen Hauses wussten von der jüdischen Familie, die sich in ihrem Keller versteckt hielt. Während manche es nur duldeten, halfen andere der Familie, sich mit Lebensmitteln zu versorgen. So auch die arische Familie von Erichs Mutter. In einer von Erichs ersten Erinnerungen an den Himmel ist dieser schwarz und übersät mit Flugzeugen. In einer anderen ist es Nacht und der Himmel ist hell erleuchtet, als sein Vater im März 1945 ein Dachfenster öffnet und sagt: „Kinder merkt euch das: Wien brennt.“

„Bis zum heutigen Tag blicke ich jeden Morgen aus dem Fenster zum Himmel hinauf. Mir ist egal, ob er blau und sonnig oder trüb und verregnet ist – für mich hat er die Bedeutung von grenzenloser Freiheit.“

Bild: Erich Ehlers, hier mit zwei seiner drei Enkelkinder Leon und Tommy.

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