Virtuelles Judentum?

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Das Internet hat die Welt verändert. Doch hat es auch das heutige Judentum verändert? Von Manja Altenburg

Bringt man Judentum und Internet zusammen, denken wohl die meisten an haGalil online. Mit etwa 250.000 Zugriffen täglich ist es das größte jüdische Online-Magazin in deutscher Sprache. Gegründet hat es 1995 David, da er während seiner Suche im Netz nach Begriffen aus dem Judentum fast ausschließlich auf Nazi-Websites stieß. „Schließlich haben wir uns entschlossen, den Dienst professionell zu betreiben.

Damit reagierten wir auch auf die weitere Zunahme von Nazi-Seiten im Netz und die Tatsache, dass Antisemitismus das zentrale Merkmal neonazistischer Propaganda ist.“ 19 Jahre später ist haGalil eine „Institution“ im Netz geworden. Mit ihrer großen Artikelsammlung über aktuelles jüdisches Leben, seiner Geschichte, Kultur und Religion, ist haGalil kaum mehr wegzudenken. Wie für den 30-järigen Religionslehrer Sharon: „Will ich mich schnell informieren über ein jüdisches Thema, gehe ich auf haGalil, dort finde ich gute Infos und auch Möglichkeiten zur Vertiefung. Als Ergänzung gehe ich dann noch auf ZWST Hadracha oder Talmud.de.“ ZWST Hadracha bietet gleich ein ganzes Potpourri an Materialien für die jüdische Jugendarbeit, Talmud.de zahlreiche Informationen zu jüdischen Feiertagen, Fragen wie Konversion u. v. m.

Rabbi werden per Skype

Das Netz bietet vielen, die sich mit dem Judentum näher beschäftigen möchten, vielfältige Möglichkeiten. Diese reichen vom Sohar, einem wichtigen Buch der Kabbala, das man herunterladen kann, über Kabbala TV bis hin zu liberalen G-ttesdiensten, zu denen man sich per Livestream zuschaltet. Sicherlich ist das kein Ersatz für eine reale Teilnahme an einem G-ttesdienst, vielleicht eine Alternative für Sozialphobiker. Aber wie so oft bietet der Livestream einen Einblick. Wenn jemand aktiver mitgestalten mag, belegt er Onlinekurse. Das Angebot ist auch hier immens. Es reicht von Iwrit lernen, wobei hier die Lehrer in Israel sitzen und die Schüler irgendwo auf der Welt, bis hin zu Talmudkursen. Die Kabbala lässt sich auch via Skype gemeinsam studieren. Skype bietet auch die Möglichkeit, seinem ganz eigenen Rabbiner auf der Welt ganz nah zu sein. So beschreibt die 29-jährige Alona, dass sie „fast täglich mit meinem Rabbiner skype. Und während meiner Ausbildung in Moskau war er mir nah. Dabei sitzt er in den USA. Ein tolles Gefühl, ihn überall dabei haben zu können!“ Doch damit nicht genug. Denn Skype ermöglicht noch viel mehr, nämlich ordinierte Skype-Rabbiner. Traditionell bildet die Orthodoxie ihre Rabbiner an (nicht-)wissenschaftlichen Jeschiwot aus, die volle Präsenz erfordern. Eine Ausnahme bilden so genannten Skype-Rabbiner, wie der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Krefeld, Yitzhak Mendel Wagner. „Um Rabbi zu werden, hat Wagner ein zweijähriges Studium der jüdischen Gesetze hinter sich.

Eine Schule für Rabbiner gibt es in der Region nicht. Daher liefen die meisten Prüfungen übers Internet“, erzählt ein Sprecher der orthodoxen Rabbinerkonferenz. Für die abschließende Prüfung musste er jedoch nach Jerusalem. Dort erhielt er 2007 zusammen mit drei anderen Rabbinern aus Deutschland seine Smicha (Ordination).

Verdammt nerdig

Wer heutzutage an Jom Kippur seine Sünden loswerden möchte, geht einfach auf G-dcast („G-ttessendung“ zugleich ein Wortspiel mit „Podcast“). Hier findet man eine Sündenbock-App namens eScapegoat. Die App lehnt humoristisch daran an, dass am Fastentag in biblischer Zeit alle Sünden des vorangegangenen Jahres einem Ziegenbock aufgebunden wurden. Der virtuelle Sündenbock lässt sich auf Twitter unter der Adresse #SinfulGoat (sündiger Ziegenbock) erreichen. Dort kann man anonym in 140 Buchstaben seine Sünden beichten. Gefördert wird das Projekt von der Jewish Community Federation of San Francisco.

Die Geschäftsführerin von G-dcast, Sarah Lefton, organisierte letztes Jahr in San Francisco und Umgebung zudem Events, bei denen echte Ziegenböcke zum Einsatz kamen, um, wie sie sagte, „jüdisches Bewusstsein zu verbreiten“. An solchen Punkten vernetzen sich virtueller und realer Raum. Aber nicht nur Sünden kann man über das Netz loswerden. Auch Ungesäuertes, das man zu Pessach nicht im Hause haben darf, kann man im Netz symbolisch verkaufen.

Viele Gemeinden im deutschsprachigen Raum stellen dazu ein Formular online zur Verfügung. Ausfüllen, absenden und Ungesäuertes ist symbolisch verkauft. So einfach geht das dank Internet.

Virtuelles Gedenken

Dem jüdischen Mahnruf zum „Zachor“ (Erinnere!) kann man dank des Internets auch auf der Metaebene folgen. Die Projekte sind vielfältig. Das wohl ungewöhnlichste ist ein begehbares Konzert im Stelenfeld in Berlin, das per iPhone erlebbar ist. 2008 wurde für mehr als 3.000 Zuhörer ein Konzert inmitten des Holocaust-Denkmals uraufgeführt. 24 Musiker spielten verteilt im Stelenfeld das Werk Vor dem Verstummen von Harald Weiss.

Nun ist es beim Durchqueren des Stelenfeldes für alle hörbar. Das Stadtarchiv Speyer setzt lieber, wie einige im deutschsprachigen Raum diesem Beispiel folgten, auf einen Blog.

Damit wird „Gedenkarbeit fortgeschrieben und letztlich weltweit einsehbar und fortschreibbar“, so der Stadtarchivar. Gerade mit solchen Projekten erreicht man junges Publikum. Das hat auch wenig Scheu, auf der Suche nach einem jüdischen Partner auf jüdischen Online-Dating-Portalen zu schauen. Beschnuppert wird per Netz, zu einem realen Zusammentreffen muss es dann jedoch kommen. Hier wird wieder einmal die Grenze des Internets deutlich. (Jüdisches) Leben wird es nicht ersetzen. Erst wenn man sich von diesem Anspruch löst, kann man die immense Bereicherung erkennen, die das Netz bietet. Es kann das eigene jüdische Bewusstsein stärken, erweitern und lässt einen über den Tellerrand blicken.

Das Internet ist ein unerschöpflicher Informationspool und regt immer wieder dazu an, sich mit seinem Judentum auseinanderzusetzen. Weltweit und ohne Grenzen.

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