„Wir glaubten, mit Bildern etwas bewirken zu können.“

1944

Der weltberühmte Fotograf aus Wien verfügt über ein Archiv mit über 40.000 Fotos, die alle von ihm aufgenommen wurden. 1939 gelang die Flucht nach Palästina: Kibbuz, Technion und Taxifahren in Haifa waren die nächsten Stationen. Erich Lessing dokumentierte den Aufstand in Ungarn 1956 und porträtierte Größen der Politik wie Winston Churchill und Charles de Gaulle. Über seinen jüngsten Streich als Fotogalerist sprach er mit Marta S. Halpert.

wina: Ich freue mich, einem Jungunternehmer mit stolzen 88 Jahren gegenüber zu sitzen. Warum haben Sie gerade jetzt ein Straßenlokal, eine Fotogalerie, eröffnet?

Erich Lessing: Diese Idee ist aus der Überlegung entstanden, dass man die vielen Fotos, vor allem Vintage Prints der letzten 40 und 50 Jahre, die im Labor bereits abgezogen sind, sowie die Modern Prints auch über das Internet verkaufen könnte. Das hat sich durchaus bewährt, doch am wenigsten Interesse gab es aus Österreich. Meine Bilder verkaufen sich wunderbar in Frankreich und Amerika – zu den Käufern zählen auch viele ehemalige Ungarn. In der ganzen Welt gab es unzählige Ausstellungen meiner Fotoarbeiten, nur hier nicht. Die kleine Galerie liegt jetzt so zentral, dass wir es versuchen wollen.

wina: Mit welchem Programm wird die Galerie bespielt?

EL: Wir versuchen hier zweierlei: erstens vier bis fünf Ausstellungen pro Jahr zu Themen, die sich aus meinen Bildern aufdrängen. Denn mein fotografisches Leben basiert auf zwei Säulen, der Reportagefotografie aus einer sehr dichten Zeit, aus der ich Material besitze, das niemand anderer hat, nämlich aus osteuropäischen Staaten in den 1950er-Jahren.  Und zweitens meine Arbeiten in Museen, die mehr als 60 Bildbände füllen. Das hier in diesen kleinen Räumen aufzuhängen ist absolut genial. Denn wir haben ganz wenig Quadratmeter, aber vier Räume.

Die aktuelle Ausstellung widmet sich Ostern. Dabei versuche ich die Gemälde aus Museen in der ganzen Welt, darunter Motive wie Leonardo da Vincis Abendmahl bis zu Salvadore Dalís gleichnamigen Werk mit Bildern der Landschaft von Jerusalem, Judäa, Jericho und Jordanien zu kombinieren. Ich habe eine einzigartige Sammlung, sowohl an Landschaften als auch an Museumsstücken, weil niemand so umfangreich fotografiert hat wie ich.

wina: Wenn junge Leute Interesse zeigen, können sie sich dann auch einen Lessing leisten?

EL: Ich hoffe das, denn die billigeren (A 4)-Drucke kosten 280 Euro, das sind Fotos, die manchmal noch einen Redaktionsstempel tragen. Die Vintage Prints fangen dann im Jahre 1950 an, solange ich schwarz-weiß fotografiert habe, also bis in die Siebzigerjahre. Wir haben die Negative, die Originale, diese kosten zwischen 1.500 und 3.000 Euro.

wina: Woran liegt es, dass es in Österreich weniger Interesse an Fotokunst gibt?

EL: Die Österreicher hören lieber Musik und gehen gerne ins Theater. Aber langsam beginnt jetzt vor allem die Dokumentarfotografie wieder modern zu werden. Die Fotos von der Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrags und jene vom 1956er-Aufstand in Ungarn sind gefragt. Ob das mit einer gewissen Nostalgie zusammenhängt, so unter dem Motto „damals war alles besser, jetzt ist es schrecklich“, das wollen wir nicht näher untersuchen.

Faktum ist jedenfalls, dass meine Farbfotos in Österreich eher unbekannt sind,  weil es hier keine Zeitschrift dafür gab und gibt. In Frankreich, Italien, England oder Amerika bin ich viel bekannter. Die große Zeit der Reportage, der Kunst- und Kulturmagazine ist vorbei.

wina: Kann man denn heute keine ästhetisch anspruchsvollen Geschichten mehr erzählen? Fehlt es an der Qualität?

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EL: Für einen Reportagefotografen, egal ob er in schwarz-weiß oder Farbe arbeitet, gibt es keinen Platz mehr, das heißt: keine Seiten. Ich sage das immer wieder bei meinen Vorträgen: Als ich 1950 im deutschsprachigen Raum zu arbeiten begonnen habe, gab es 15 wöchentlich erscheinende Illustrierte.  Stuttgart allein hatte drei Zeitschriften, auch in Wien gab es drei. Ich frage mich oft, was heute ein junger Reportagefotograf macht, der die Zeit dokumentieren möchte, wie und wo er überhaupt Platz findet, um zu veröffentlichen.

wina: Können es die jungen Kollegen nicht? Oder woran liegt es?

EL: Die Fotografen können es, das sehe ich immer wieder bei den Kollegen, sie machen wunderbare Sachen. Aber wenn sie die große Reportage machen, finden sie keinen Markt dafür. Ein Grund dafür ist sicher das trügerische Medium Fernsehen. Dort  huscht eigentlich alles schnell vorbei. In einem Buch oder einer Zeitschrift kann man vor- oder zurückblättern. Man bleibt an einem Bild hängen, schaut es nochmals an. Es gibt auch keine Zeitung mehr, die wie damals irgendein Thema über 16 Seiten bringt. Egal ob es eine Liebesgeschichte ist oder ein vergiftetes Dorf in Japan wie vor 40 Jahren.

wina: Ist das nur ein finanzielles Problem oder eher Desinteresse?

EL: Ich glaube leider beides: In den USA wurde das Life Magazin mit einer Auflage von sieben Millionen eingestellt, weil die Post das Porto um 5 Cent erhöht hatte. Daraufhin war es nicht mehr möglich, die Auflage zu finanzieren. Und die Besitzer sind draufgekommen, dass man bestimmte Zielgruppen besser und lukrativer über ein special interest magazin erreichen kann. Die Yacht verkauft man heute über ein Yacht-Magazin.

wina: Sie wurden 1951 zu einem der ersten Mitglieder der von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, David Seymour und George Rodger gegründeten weltbekannten Fotografenagentur Magnum Photos. Die Agentur war eine Kooperative mit humanistisch gleich gesinnten Fotografen, die unabhängig war und sich selbstständig organisiert hat. Gab es da keinen harten Konkurrenzkampf zwischen den Kollegen?

EL: Robert Capa hatte natürlich einen besonderen Status und konnte sich alles aussuchen, zum Beispiel Heuschrecken in Persien zu fotografieren. Aber die Kooperative funktionierte wunderbar: Wer gerade im Büro war, hat die Fotos des Kollegen editiert, die Bilder ausgewählt und zum Verkauf angeboten. Keiner von uns hatte je Geld oder einen fixen Auftrag vor Beginn einer Reportage. Es war wie im Kibbuz: Der Fotograf bekam 64 Prozent der Einnahmen zum Leben, und in die Magnum-Gemeinschaftskassa flossen die restlichen 36 Prozent.

wina: Sie haben auch den Alltag im Nachkriegsdeutschland und im geteilten Berlin beeindruckend dokumentiert. Wie funktionierte das damals?

EL: Man beschloss, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eine „Supergschicht“ sei, und ich wurde hingeschickt: Ich habe sechs Monate in Deutschland gelebt und fotografiert, und Magnum hatte noch keinen Kunden. Ich habe dann Hans Habe kennen gelernt und es hat irgendwie funktioniert. Ich weiß nicht, wie lange eine Kooperative, die auf Qualität und Einzelreportagen aufgebaut ist, überhaupt noch überleben kann.

wina: Apropos überleben: Mit knapp 16 Jahren schafften Sie die Flucht nach Palästina in einen Kibbuz mit Hilfe Ihrer Mutter, Teddy Kolleks und der Jugendalijah. Sie waren auf der „Galilea“, dem letzten Schiff, das am 31. Dezember 1939 noch Haifa anlaufen konnte. Ihre Großmutter wurde in Theresienstadt, Ihre Mutter in Auschwitz ermordet. Man sieht Sie öfter in der Synagoge: religiös oder sentimental?

EL: Weder noch! Aber als ich 1946 nach Wien zurückgekommen bin, musste ich schon eine Identität beweisen. Nicht unbedingt eine religiöse, sondern die Identität, wer und was bist du. So bin ich gleich in die Kultusgemeinde eingetreten. Ich gehe jedes Jahr zu den hohen Feiertagen in die Synagoge, um Flagge zu zeigen. Ich habe einen Sitz in der 2. Reihe, Sitz 5, den ich brav bezahle. Diesen Familiensitz hatten wir schon vor dem Krieg: auf den Namen meines Großonkels, David Lessing.

wina: Sie lebten zwei Jahre im Kibbuz Neve Eitan, was geschah danach?

EL: Ich habe zuerst in Haifa in einem Radiogeschäft gearbeitet, später bin ich viel in der Nacht Taxi gefahren, dabei lernte ich Gerhard Bronner und auch den berühmten Geiger Bronislaw Hubermann kennen. Dann bin ich Fahrer für die Britische Armee geworden und habe abwechselnd englische und jüdische Offiziere nach Beirut, Bagdad und Täbris chauffiert. In Netanya mutierte ich dann zufällig zum Strand- und Kindergartenfotografen.

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wina: Das Motto hieß also learning by doing. Ihre Aufnahmen vor und während der Ungarischen Revolution 1956 sind unvergesslich und ein erschütterndes geschichtliches Dokument. Sie nahmen bereits im Juni 1956 an einem Treffen des Petöfi-Kreises in Budapest teil, fotografierten als Einziger im Saal und führten ein Interview mit Imre Nagy. Wie sehen Sie Ungarn heute?

EL: Wem gefällt der Orbán schon. Ganz Europa driftet immer mehr ins bürgerliche rechte Lager. Ich glaube immer weniger an eine normale Zukunft, ohne Revolten, ohne Arbeitslosigkeit. Wir leben in Österreich noch auf einer Insel der Seligen, wie lange das andauern kann, weiß ich nicht.

wina: Haben Sie heute noch Kontakte nach Ungarn?

EL: Meine Kontakte wurden meist an den Jahrestagen erneuert, solange die Protagonisten gelebt haben. Man hat mir die Imre-Nagy-Medaille verliehen und es gab Ausstellungen zum Thema. Doch die Jugend in Ungarn weiß nichts und hat auch kein Interesse an den Ereignissen von 1956. Und auch bei uns kennt man kaum noch die Menschen auf dem Staatsvertragsbild vom Belvedere.

wina: Welche Reportagen stehen auf Ihrer aktuellen Wunschliste?

EL: Die Schwarz-weiß-Reportage reizt mich manchmal, aber ich fühle nicht dasselbe brennende Interesse wie früher, weil ich auch nicht glaube, dass diese Reportagen etwas bewirken. Wir Magnum-Leute haben immer geglaubt, dass man mit Bildern etwas erreichen, sogar verändern kann. Wir haben aber in Budapest gelernt, dass man leider nichts ausrichten kann. Die Weltgeschichte hat ihre eigenen Gesetze. Zwei, drei Ikonen, wie Vietnam zum Beispiel, konnten in der nationalen Politik ein gewisses Umdenken einleiten – aber das sind ganz seltene Fälle. Heute wird nicht mehr als ein Prozent der österreichischen Bevölkerung an der faschistoiden Entwicklung in Ungarn interessiert sein oder überhaupt etwas darüber wissen.

Zur Person

Erich Lessing wurde am 13. Juli 1923 in Wien geboren. Mit knapp 16 Jahren gelang ihm noch die Flucht nach Palästina; seine Großmutter und Mutter wurden von den Nazis in Theresienstadt bzw. Auschwitz ermordet.

Lessing lebte zuerst zwei Jahre im Kibbuz und studierte danach Radiotechnik in Haifa. Zunächst arbeitete er u. a. als Taxifahrer und Fotograf. 1947 kehrte er nach Wien zurück und lernte seine Frau Traudl kennen. Ab 1951 war er Mitglied der renommierten Fotografenagentur Magnum Photos.

Erich Lessings Bilder wurden in zahlreichen Magazinen wie „LIFE“, „Time Magazine“, „Paris Match“ und „The New York Times“ veröffentlicht. Er porträtierte Politiker, wie Winston Churchill und Nikita Chruschtschow, Künstler, wie Herbert von Karajan und Helmut Qualtinger, und begleitete am Filmset u. a. Gregory Peck als Captain Ahab und Julie Andrews in „The Sound of Music“.

Nach 1960 widmete sich Erich Lessing vermehrt der Kunst und Geschichte. Er fotografierte tausende Kunstwerke in Museen, historische Plätze und archäologische Ausgrabungen. Lessing unterrichtete Fotografie u. a. an der Internationalen Sommerakademie für bildende Kunst in Salzburg und als UNIDO-Experte in Indien. Die Akademie für angewandte Kunst Wien verlieh ihm den Ehrentitel eines Professors. Weitere Auszeichnungen: die Imre-Nagy-Medaille und der American Art Editor’s Award sowie der Große Österreichische Staatspreis im Jahr 1997.

Erich Lessing hat drei Kinder und fünf Enkelkinder.

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