Erster September war Schulanfang. Nicht überall im Land konnten sich die Eltern sicher sein, dass ihre Kinder sicher sein würden in ihren Klassen. An manchen Orten im Norden, wo der Raketenalarm nie aufgehört hat, hieß es, dass von Tag zu Tag morgens darüber entschieden werden soll, ob der Unterricht stattfinden könne. Das ist der Alltag in manchen Teilen Israels. Immer noch.
Man ist inzwischen an einiges gewöhnt. Aber dann begann das neue Schuljahr beim Aufwachen mit Nachrichten, die tief bis in das kollektive Mark drangen. Sechs Geiseln wurden geborgen. Von der Hamas ermordet. Mit Kopfschüssen aus nächster Nähe. Ein bisschen später wurden ihre Namen bekannt gegeben: Eden Yerushalmi, Hersh Goldberg-Polin, Alex Lobanov, Carmel Gat, Almog Sarusi, Ori Danino. Jeder für sich eine Welt, mit Angehörigen, die seit mehr als elf Monaten – unfähig zu atmen – ausgeharrt und unermüdlich gekämpft hatten.
Auf den Beerdigungen baten die Familien ihre Lieben immer wieder um Entschuldigung, dass es ihnen nicht gelungen war, sie zu retten. Von seinen Schuldgefühlen, vielleicht doch nicht alles Mögliche getan zu haben, erzählt Gili Roman. Seine Frau Yarden hatte es im November zu ihm und ihrer kleinen Tochter nach Hause geschafft, seine Schwägerin Carmel Gat war nicht mehr freigekommen.
Ihr Gesicht kennt man, auch ihre Geschichte. Dass sie bei ihren Eltern am 7. Oktober zu Besuch gewesen war im Kibbuz Beeri. Über sie wird erzählt, dass sie anderen Geiseln mit Mediation und Yoga geholfen hatte, die Zeit in den Tunneln zu überstehen. Jetzt ist sie tot. Es falle so unendlich schwer zu akzeptieren, sagt Gili Roman, dass die Bilder, die im Laufe des vergangenen Jahres immer wieder von Carmel gezeigt worden waren, im Urlaub in Indien oder lachend auf dem Sofa mit der kleinen Nichte, jetzt keine Aufnahmen der Hoffnung mehr seien, sondern Fotos, die an sie in der Vergangenheit erinnerten.
Alex Lobanovs Frau war schwanger gewesen, als ihr Mann entführt worden war. Inzwischen ist das Baby dreieinhalb Monate alt. Es wird seinen Vater nur von Bildern kennen. Von Hersh Goldberg-Polin gibt es noch eine Videoaufnahme der Hamas. Dort sieht man ihn, blass, schmal und einarmig, weil sie ihm den anderen bei der Entführung abgeschossen hatten. Für seine Eltern, die es mit ihrem Kampf für den einzigen Sohn bis auf das Cover des Time-Magazins und zur Versammlung der Demokraten in Washington geschafft hatten, war es ein wichtiges Lebenszeichen.
Beim Niederschreiben dieser Zeilen sind noch 101 Geiseln dort. Wie viele von ihnen noch am Leben sind – darüber gibt es bloß Vermutungen. Sicher ist, dass die Zeit drängt.
Seit Monaten gibt es Verhandlungen, die zu einer Freilassung der Geiseln und zu einem Waffenstillstand in Gaza führen sollen. Es lässt sich schwer einschätzen, ob die Ermordung der sechs – kurz bevor die israelische Armee sie in einem Tunnel gefunden hat – jetzt ein Abkommen mit der Hamas eher möglich machen oder es vielleicht ganz begraben wird. Die Geiseln sind Sinwars „Faustpfand“. Je weniger er hat, desto höher der Preis. Dass die Geiseln beim Anrücken der Soldaten getötet wurden, bedeutet aber auch, dass die Chancen einer militärischen Rettungsoperation geschwunden sind.
Beim Niederschreiben dieser Zeilen
sind noch 101 Geiseln dort.
Die Israelis wissen, dass Sinwar ein furchtbarer Massenmörder ist, auf den sie keinerlei Einfluss haben. Deshalb gehen sie auf ihren Straßen demonstrieren, um auf den eigenen Regierungschef einzuwirken, ihn zu mehr Flexibilität bei den Verhandlungen zu bringen.
Die Gespräche, die seit Monaten in Doha und in Kairo stattfinden, sind kompliziert. Und das nicht nur aus politischen Gründen. Man hat es mit vielen Akteuren zu tun, da sind Schirmherren, Unterhändler, Vermittler und Fürsprecher. Die Probleme beginnen damit, dass zwar jeder Akteur mit jemandem spricht, jedoch nicht jeder mit jedem. Die unmittelbaren Konfliktparteien – Israel und die Hamas – stehen nicht in direktem Kontakt. Ihre Vertreter sind nie gemeinsam in einem Raum, wohnen während der Gespräche nicht am selben Ort. Sie begegnen einander auch nicht zufällig im Aufzug. Auch die Amerikaner, die Schirmherren der Gespräche, verweigern der Hamas den direkten Kontakt.
Die hochrangigste israelische Delegation ist ein Trio aus Mossad-Chef David Barnea, Inlandsgeheimdienstchef Ronen Bar und dem militärischen Verantwortlichen für Geiseln, Nitzan Alon. Sie haben ein klar abgestecktes Mandat des Regierungschefs, sie stehen im engen Kontakt. Wenn sie wieder einmal nach Doha aufbrechen, oder auch nach Kairo, wie in den letzten Monaten öfters geschehen, bemühen israelische Kommentatoren gerne zynisch das Bild von einer Hochzeitsfeier, bei der allein der Bräutigam zur Stelle sei. Denn die Braut – in diesem Fall der Hamas-Chef Yahya Sinwar – verschanzt sich in Gaza. Statt der Braut aber sind die Cousins da, in diesem Fall die Kataris. Sie vertreten die Interessen der Hamas, laufen zwischen den Seiten hin und her.
Konkret muss man sich das so vorstellen: Die Israelis sitzen in einem Komplex in Doha. Die Amerikaner gehen ein und aus. Gibt es neue Vorschläge, die in den Augen der Kataris als annehmbar gelten, fahren sie damit in die Villen der politischen Hamas-Vertreter, die in Katar leben. Dort wird noch einmal gefiltert. Man entscheidet, ob es sich um einen Non-Starter handelt, oder ob es sich lohnt, die Sache dem Architekten des Massakers vom 7. Oktobers weiterzuleiten.
Wie das dann passiert, ist ein Unterfangen für sich. Sinwar ist ein Gejagter, der inzwischen ständig seinen Aufenthaltsort wechselt. Kurzzeitig soll er manchmal in Frauenkleidern aus dem Untergrund auftauchen, weil der Sauerstoff unter der Erde nicht ausreicht. Aus Sorge, man könnte ihn abhören oder verorten, nutzt er schon seit Monaten sein Satellitentelefon nicht mehr. Nachrichten werden ihm persönlich von möglicherweise mehreren Boten überbracht, die sich auf dem Weg ablösen. Bis zu seinem Feedback können Tage oder sogar Wochen vergehen.
Das verzögert die Verhandlungen unendlich. Am Ende entscheidet er ganz allein. Sinwar hätte auch niemanden mehr, außer vielleicht seinen noch radikaleren Bruder, mit dem er sich beraten könnte. Alle anderen aus dem Führungskreis der Hamas in Gaza sind nicht mehr am Leben.
Dass ausgerechnet Ägypten und Katar vermitteln, hat sehr unterschiedliche Gründe. Für Ägypten haben die Palästinenser eine direkte geopolitische Bedeutung, Gaza ist quasi der eigene Hinterhof. Man hat Angst vor einem Überschwappen des Kriegs. Die Interessen Katars hingegen, fast zweitausend Kilometer entfernt, sind ganz anders gelagert und widersprüchlich. Katar will sich als Regionalmacht profilieren und steht dabei auch den Muslimbrüdern nahe, es schickte Geldkoffer nach Gaza und finanziert bis heute das Luxusdasein der Exil-Führung der Hamas in Doha.
Bisher hatten die Amerikaner versucht, die Verhandlungen trotz aller Schwierigkeiten am Laufen zu halten. Sie wollten das Momentum nicht verlieren. Jetzt, nach der Ermordung der sechs Geiseln, wird es von ihrer Seite noch einen – womöglich allerletzten – Versuch geben, diesem Drama ein Ende zu setzen.
Rachel Goldberg-Polin wartete mit ihrem Mann 332 Tage bis sie die Nachricht erhielten, dass ihr Sohn Hersh (23), der am 7. Oktober 2023 vom Nova-Festival entführt wurde, von seinen Entführern ermordet wurde.
„Ok, sweet boy, go now on your journey. I hope, it’s as good as the trips you dreamed about, because finally, my sweet boy, finally, finally, finally, finally you are free. I will love you and I will miss you every single day for the rest of my life, but you’re right here. I know you’re right here. I just have to teach myself how to feel you in a different way. And Hersh, there is one last thing I need you to do for us. Now I need you to help us stay strong and I need you to help us survive.“
Gemeinsam mit Hersh wurden auch Eden Yerushalmi Danino Ori ,)24 (ז‘ל Almog ,)32 ( ז‘ל novLoba Alex ,)25 (ז‘ל und) 27 (,ז‘ל Sarusi ז‘ל Gat Carmel (40) von palästinensischen Terroristen ermordet.
Ihr Andenken sei zum Segen!