Klartext gesprochen

Dort, wo im März 1938 die Massen Adolf Hitler zujubelten, am Wiener Heldenplatz, ist nun eine mutige Ausstellung der drei Kuratorinnen Heidemarie Uhl, Michaela Raggam-Blesch und Isolde Vogel zu sehen. Vorbei sind die Zeiten des Beschönigens: die Schau „Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah“ zeigt nicht nur, dass Österreich eben nicht das erste Opfer war und Österreicher auch zu den NS-Tätern gehörten, sie führt eindrücklich vor, dass Wien sogar als Motor für eine immer judenfeindlichere Politik im gesamten „Deutschen Reich“ fungierte.

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Der Motor setzte sich übrigens zunächst selbst in Bewegung: in den Tagen rund um den so genannten „Anschluss“ gab es vor allem in Wien massenhaft Pogrome. Diese Pogrome seien im Gegensatz zu dem, was folgen sollte, allerdings „nicht gesteuert“ gewesen, wie Uhl bei einer Führung durch die Ausstellung (eine Kooperation vom Haus der Geschichte Österreich, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien) betonte. Der Antisemitismus habe sich in den Jahrzehnten davor nicht zuletzt durch die Politik Karl Luegers bereits in die DNA der Bevölkerung eingebrannt. In Deutschland habe man daraufhin gesehen: es kam in Wien zu keinem nennenswerten Widerstand gegen diese Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden. „Da wusste man, dass die antijüdischen Maßnahmen noch radikaler werden können, als sie es bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland waren“, so Uhl. Joseph Goebbels sollte sich die März-Pogrome in Wien schließlich zum Vorbild für organisierte Pogrome im Juni in Deutschland nehmen.

In der Folge wurde Wien für die Nationalsozialisten eine Art Versuchslabor, wie weit man gehen kann, aber auch, wie man die Vertreibung und später auch Vernichtung von Juden und Jüdinnen am effizientesten organisiert. Am 18. März 1938 veranlasste Adolf Eichmann eine SS-Razzia in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien. „Freitag 9 Uhr früh. Da wurde das Haus (…) besetzt. Die einzelnen Büroräume wurden durchsucht. Schreibtische und Akten nachgesehen (…). Um 10 Uhr hörte die telefonische Verbindung auf, das Haustelefon wurde von SS besetzt. Leise war das Gerücht zu uns gelangt, dass Präsidium und Amtsdirektion unter schärfster Bewachung stünden und bereits zum Teil verhaftet seien. Gegen 12 Uhr kam der Räumungsauftrag“, berichtete Rosa Rachel Schwarz, Leiterin der Fürsorgeabteilung der IKG Wien, über das Vorgehen der SS an diesem Tag. Am 2. Mai wurde die IKG Wien schließlich wieder unter der Kontrolle Eichmanns eröffnet. Sie sollte nun die Ausreise von möglichst vielen Mitgliedern organisieren.

Eichmann schuf mit der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien eine neue Behörde und die erste dieser Art im NS-Staat. Hier wurde erprobt, wie man Juden und Jüdinnen einerseits dazu bewegen kann, das Land zu verlassen, ihnen dabei aber gleichzeitig auch noch den Großteil ihres Vermögens entzieht. Der Druck, der aufgebaut wurde, war enorm. Rund 200.000 Juden und Jüdinnen lebten zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ in Österreich – wobei jene aus den Bundesländern 1938 und 1939 sukzessive nach Wien übersiedeln mussten, so Uhl. Die Archivbestände aus dieser Zentralstelle zeigen, dass sich insgesamt 118.000 Personen für eine Ausreise registrieren ließen.

Kuratorin Heidemarie Uhl führt durch die Schau.

Aber nicht alle Juden und Jüdinnen verließen das Land, nicht in Wien und nicht in anderen Städten des NS-Staates. Das war der Beginn der Massendeportationen in Ghettos, Vernichtungslager und Hinrichtungsstätten „im Osten“. Erprobt wurde die Organisation dieser Abtransporte – in Wien. Am 15. Februar startete vom Aspangbahnhof der erste solche Transport. Die erste reichsweite solche Deportation erfolgte dann am 15. Oktober 1941, ihr Ziel war das Ghetto Litzmannstadt/Lodz – also vor 80 Jahren, weshalb für die Eröffnung der Ausstellung auch der heutige 15. Oktober gewählt wurde. Bis zum 9. Oktober 1942 wurden schließlich vom Wiener Aspangbahnhof insgesamt 45.600 Menschen deportiert. Die „Eichmann-Männer“ wurden nach der Auflösung der Zentralstelle in Wien im März 1943 in ganz Europa als „Deportations-Experten“ eingesetzt.

Bildung sei das Mittel der Wahl im Kampf gegen Antisemitismus, sagte die Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich, Monika Sommer, am Freitag bei der Eröffnung der Ausstellung. Die Freiluftschau biete nun sowohl einen barriere- als auch coronafreien Zugang und soll in der Folge als Wanderausstellung auch international zu sehen sein. In Wien wird die Schau bis 10. Dezember 2021 gezeigt.

Karoline Edtstadler, Ministerin für EU und Verfassung, betonte, Österreich trage eine historische Verantwortung. Zu dieser habe sich das Land lange nicht bekannt, „umso nachdrücklicher tun wir es heute“. Sie beklagte allerdings auch, „der Hass ist aus der Gesellschaft nicht verschwunden“. Und die Pandemie habe für Antisemitismus, Hass und Hetze sogar einen Boost gebracht. „Es ist daher wichtig, gerade im öffentlichen Raum diese Geschichte sichtbar zu machen“, so die Ministerin.

IKG-Präsident Oskar Deutsch betonte, Auschwitz sei für alle ein Begriff, der Ort werde aber von vielen als weit entfernt empfunden, damit schiebe man das Thema allerdings auch ein Stück weit von sich weg. „Dabei hat alles hier begonnen, in den Nachbarschaften unserer Eltern und Großeltern.“ Die Vernichtungslager seien erst am Ende gestanden, „am Anfang standen Abgrenzung und Ausgrenzung“. Es seien Österreicher und Österreicherinnen gewesen, die ermordet wurden, aber eben auch Österreicher und Österreicherinnen, die gemordet und das nationalsozialistische System gestützt hätten. Darüber habe sich inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft und Politik ein neues Bewusstsein gebildet. Nichtsdestotrotz steige in Österreich und in ganz Europa der Antisemitismus. Deutsch verwies hier vor allem auf Corona-Verschwörungstheorien und den Israel-bezogenen Antisemitismus. Es sei Zeit, diese bedrohliche Dynamik zu brechen. Wünschenswert wäre hier ein gesellschaftliches Selbstregulativ.

Monika Sommer, Direktorin des Hauses der Geschichte Österreich, IKG-Präsident Deutsch und Ministerin Karoline Edtstadler.

Dass es ein solches in der NS-Zeit nicht einmal ansatzweise gab, zeigt die Ausstellung am Heldenplatz eindrücklich. In vielen Details wird nicht nur die Brutalität des Vorgehens der NS-Behörden geschildert, sondern auch auf die immer prekär werdendere Lebensrealität von Juden und Jüdinnen in Wien in der NS-Zeit eingegangen. Stichwort Sammelwohnungen: in diesen wurden die in der Stadt noch lebenden Juden nach und nach zusammengepfercht. Sie waren im 2. Bezirk und entlang des Donaukanals im 1. und 9. Bezirk konzentriert.

In einer solchen waren auch die vier Schwestern Sigmund Freuds untergebracht, denen es nicht gelungen war, Wien zu verlassen. Uhl verweist dabei auch auf die Schwierigkeit für ältere Menschen, Visa zu ergattern, die USA knüpfte eine Einreisegenehmigung zum Beispiel an gesundheitliche Vorgaben. Marie, Pauline und Adolfine wurden im September 1939 in die Wohnung ihrer Schwester Rosa Regina Graf in die Bibersraße eingewiesen. Weitere Familien wurden in die Wohnung einquartiert, die sukzessive zu einem überfüllten Sammelquartier wurde. Am 15. Jänner 1941 wandten sich die Schwestern in einem Brief an den behördlichen Vermögensverwalter und NS-Anwalt Erich Führer.

„Sehr verehrter Herr Doctor! Die äußerste Not zwingt uns, trotz Ihrer ablehnenden Haltung in der Wohnungsfrage an Ihre Hilfe zu appellieren. Nachdem wir vor 3 Monaten 2 Ehepaare in unsere Wohnung aufnehmen mussten, wird uns der neuerliche Zuzug von 8 Personen !! zuteil und wir 4 Schwestern auf einem Raum, der Schlaf- und Wohnzimmer sein soll, beschränkt. Wir sind, wie Sie wissen, alte, teilweise kränkliche, oft bettlägerige Personen, (…) wir können nicht glauben, dass Sie einer solchen Anordnung fühllos gegenüber stehen und uns Ihre Hilfe versagen werden.“ Alle vier Schwestern sollten schließlich von den Nazis ermordet werden. Sie wurden im Juni und August 1942 nach Theresienstadt deportiert. Adolfine Freud starb dort am 29. September 1942. Marie Freud, Pauline Winternitz und Rosa Graf wurden im September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

www.hdgoe.at

Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah

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