„Alle von uns sind durch die Hölle gegangen“

Jeden Mittwochvormittag trifft sich eine Altherrenrunde in einem Wiener Innenstadtcafé. Gemeinsam haben die Freunde die Traumata der Schoah. Als sie die Tempel in Wien brennen sahen, waren sie noch Kinder. Heute sind sie die Letzten, die noch davon berichten können.

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Mittwochstreff. Auf den ersten Blick eine illustre Seniorenrunde, wo der Schmäh rennt … © Konrad Holzer

Diesmal sind sie zu fünft, oft sind sie sogar mehr, obwohl sie immer weniger werden. Worüber sie meist reden? „Über die Krankheiten. Früher haben wir auch noch über die Weiber geredet“, gestehen sie lachend.
Und gar nicht so selten sprechen sie auch über die Vergangenheit, die sie als geborene Wiener und Juden gemeinsam haben.
„Nur der Walter is’ a G’scherter.“ Walter Fantl-Brumlik, der Älteste der Runde, ist aus Niederösterreich. „Ich hab’ noch die Nummer!“, sagt er fast zur Begrüßung. Lange hat er sie mit einem Pflaster verklebt, bis er sich spät entschlossen hat, sie bei seinen Besuchen als Zeitzeuge in Schulen herzuzeigen. Zeitzeugen sind sie allesamt, und das ist, so sagen sie, eine Verpflichtung, aber auch eine Belastung, wenn man zum Beispiel öffentlich sprechen muss, wie es Herbert Schrott so eindrücklich bei der Eröffnung einer Gedenkstätte am ehemaligen Aspangbahnhof getan hat. Mit fester Stimme hat er da erzählt, wie er den höhnischen Jubel der Wiener bei seinem Abtransport erlebt hat. „Da kommen dann auch die Bilder wieder, denn so was kann man nicht vergessen“, meint Bernhard Morgenstern. Auch er ist vom Aspangbahnhof nach Theresienstadt transportiert worden, „das waren noch Personenwagen. Von Theresienstadt nach Auschwitz, da waren’s dann Viehwaggons.“ „Na geh’, ich bin noch elegant im Personenwagen nach Auschwitz gereist“, lacht Schrott.

Bernhard Morgenstern © Konrad Holzer

Frühes Leid. Beide waren zwölf Jahre alt, als die Tempel brannten. „Ich hab’ den Tempel in der Mohapelgasse brennen gesehen. Das war früher die Tempelgasse, aber die durfte ja damals nicht mehr so heißen. Ich hab’ zugeschaut, wie die Wiener sich gefreut haben.“ Für Bernhard Morgenstern war das der Anfang seiner Leidensgeschichte. Die Eltern flüchteten nach Polen, in der Hoffnung, ihre Kinder – „wir waren drei Buben und drei Mädchen“ – nachkommen zu lassen. So kamen Bernhard und sein jüngerer Bruder erst in ein Waisenhaus der Kultusgemeinde in die Bauernfeldgasse und später in das so genannte „Piper-Heim“ im zweiten Bezirk. „Da ist eines Tages die SS gekommen und hat alle Kinder mitgenommen und nach Polen geschickt. Kein einziges ist zurückgekommen. Wir waren an diesem Tag bei meiner Schwester zu Besuch, zu der wir dann auch gezogen sind.“ Obwohl er von einem jungen Mann, der aus Polen zurückgekehrt war, gewarnt worden war – „wenn sie euch vorladen, geht’s nicht hin, die verfrachten euch nach Polen und bringen euch alle um“ –, konnte er das einfach nicht glauben, und so landete er mit Bruder und Schwester vorerst in Theresienstadt.

»Alle von uns sind durch die Hölle gegangen, aber jede Geschichte ist anders.«

Auch die Schrotts wollten Gerüchten, die offenbar bereits kursierten, keinen Glauben schenken: „Passt’s auf, dass net nach Polen kummts. Da bringen’s alle Juden um“, habe ihm ein wohlmeinender Polizist gesagt, doch Herberts Vater meinte: „Na, vielleicht haben sie einen erschossen. Wenn wir nach Osten geschickt werden, werden wir eben dort arbeiten. Dieses Verharmlosen, Verniedlichen, das hat mich mein ganzes Leben begleitet.“

Herbert Schrott und Bernhard Morgenstern waren beide zwölf Jahre alt, als die Tempel brannten. © Konrad Holzer

Als Herbert im November 1938 den Rauch von den brennenden Tempeln über Wien aufsteigen sah, hatte seine Familie sogar schon gültige Visa für Amerika und zwei Schiffskarten, aber die dritte für die Mutter konnten sie sich nicht mehr leisten. „Die Kultusgemeinde versprach zu helfen, aber das dauerte zu lang. So wurden wir nach Theresienstadt abtransportiert. Ich war im Lager 7 und Morgenstern im Lager 3. Bemerkenswert ist, dass alle Lagerführer Österreicher waren.“ Besonders an Obersturmbannführer Rahm erinnern sich die beiden. „Onkel Rahm, schon wieder Schokolade“, mussten die Kinder sagen, als das Rote Kreuz das Lager besichtigte.
Als Bernhard in Auschwitz ankam, war er schon 18 und arbeitsfähig, sein jüngerer Bruder aber kam an der berüchtigten Rampe ebenso „auf die linke Seite“ wie Walter Fantls Vater. Walter konnte zwar arbeiten, hatte bald nur mehr 37 Kilo.
Befreit wurden Bernhard und Herbert letztlich in Bayern. Ihr Überleben betrachten sie heute fast als Wunder. „Nur mit Seichel (Verstand) allein ging das nicht. Da brauchte man auch Masel und Widerstandskraft. Jung und gesund war die Voraussetzung, dass man überhaupt eine Chance hatte.“

„Alle von uns sind durch die Hölle gegangen, aber jede Geschichte ist anders“, stellt Alfred Schreier fest, der mit Philip Kornreich eher ruhig am Tisch gesessen ist. Die beiden sind zumindest nicht im KZ gewesen und später nach Amerika ausgewandert. Erst vor wenigen Jahren sind sie in ihre Geburtsstadt zurückgekommen, wo auch sie so viel Schlimmes erleben mussten. Bernhard, Herbert und Walter kamen schon bald nach dem Krieg wieder nach Wien, willkommen geheißen wurden sie hier nicht gerade, und zurückbekommen haben sie auch nichts.
Wie sie mit den Traumata aus der Vergangenheit in Wien ihr Leben aufbauen konnten? „Wir haben uns an die Guten gehalten, die hat ’s ja auch gegeben.“ Die politischen Entwicklungen der Gegenwart, an denen sie wachen Anteil nehmen, betrachten sie „mit Enttäuschung. Für Angst sind wir schon zu alt.“
Ihre jeweiligen Geschichten kennen sie alle schon, doch am Mittwoch kommt man trotzdem gern zum Reden zusammen, bei einem Kaffee und einem Glas Wasser. „Wer ist heut’ zum Zahlen dran?“

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