Alma in der Oper: die Muse als kontroverse Persönlichkeit

Ella Milch-Sheriff ist ein feingliedriges, fast durchsichtiges Wesen. Man kann sich kaum vorstellen, dass sie solch wuchtige Opernmusik komponiert. Im Auftragswerk der Volksoper Wien stellt sie einen Aspekt Alma Mahler-Werfels in den Mittelpunkt, der in den zahlreichen Rückschlüssen zu ihrer Biografie bisher kaum behandelt wurde: Alma, die Mutter. Komponistin Ella Milch-Sheriff und Librettist Ido Ricklin im Gespräch mit Marta S. Halpert.

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Die Komponistin und ihr Librettist: Ella Milch-Sheriff und Ido Ricklin beweisen sich einmal mehr als kongeniales Team für aufwühlende Bühnenprojekte. © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

WINA: Unsere erste Begegnung war im September 2016 bei der österreichischen Erstaufführung Ihrer Kammeroper Baruchs Schweigen im Rahmen des Festivals EntarteOpera im Semperdepot. Dieses packende Musikdrama haben Sie auf Basis der Tagebuch-Erinnerungen ihres Vaters während der Shoah verdichtet und komponiert. Das war ein sehr persönliches Thema, welches Sie hier musikalisch aufbereiteten. Jetzt wird Ihre Oper Alma über Alma Mahler uraufgeführt, als Kompositionsauftrag der Volksoper in Wien. Worin liegt Ihre persönliche Faszination mit dieser mehrfach beschriebenen Frau?

Milch-Sheriff: Da muss ich ein wenig ausholen: Ich war 36 Jahre mit Noam Sheriff, einem genialen Komponisten und Dirigenten, verheiratet, der in Israel so berühmt war wie ein Hollywood-Star. Wir wurden auf der Straße ständig aufgehalten, weil die Menschen ein Autogramm von ihm wollten. Ich war damals 28 Jahre jung, Noam zwanzig Jahre älter, also 48. Ich hatte bereits mit zwölf Jahren zu komponieren begonnen, aber durch die Ehe mit diesem großartigen Musiker war ich schöpferisch gelähmt. Deshalb habe ich mich auf meine Stimme konzentriert und als Mezzosopran sowohl Lieder wie auch Opernpartien gesungen. Aber das Schöpferische in mir war dann doch stärker, und ab einem gewissen Punkt kehrte ich zur Komposition zurück.

Hat Sie Noam Sheriff abgehalten zu komponieren?

Milch-Sheriff: Nein, überhaupt nicht, das war mein ureigenes Problem. Deshalb konnte ich Alma Mahler gut verstehen, denn ich fand viele Gemeinsamkeiten zwischen uns. Sie war musikalisch sehr talentiert, aber der große Schatten von Gustav Mahler hat sie sogar noch nach seinem Tod blockiert. Sie komponierte noch einzelne Lieder, aber die waren nie mehr so gut wie jene, bevor sie Mahler getroffen hatte. Ich kann nachfühlen, wie es ihr ergangen ist, deshalb auch mein Interesse.

„Es wurde mir klar, dass ich als Komponistin auf der Bühne präsent
sein will, aber nicht als Sängerin.“

Was war Ihre erste Komposition als Frau Sheriff?

Milch-Sheriff: Das war die Kantate Ist der Himmel leer? für Mezzosopran, Erzähler und das finnische Symphonieorchester. Ich realisierte sehr schnell, dass ich das unmöglich selbst singen kann, es war emotional viel zu nah an mir dran. Es wurde mir klar, dass ich als Komponistin auf der Bühne präsent sein will, aber nicht als Sängerin.

Und warum war das für Sie so emotional?

Milch-Sheriff: Ich schrieb die Musik auf Basis jener Aufzeichnungen, die mein Vater, Baruch Milch, im besetzten Polen 1943–1944 gemacht hatte, als die Nazis seine erste Frau und ihren dreijährigen Sohn ermordeten. Der Direktor des Staatstheaters Braunschweig hörte diese Kantate und ermutigte mich, den Stoff zu einer Kammeroper zu verarbeiten. Gemeinsam mit meiner Schwester und der israelischen Theaterautorin und Regisseurin Yael Ronen entstand das Libretto für die Oper Baruchs Schweigen, die im Februar 2010 in Braunschweig uraufgeführt wurde.

 

ELLA MILCH-SHERIFF wurde 1954 in Haifa, Israel, geboren. Ihr aus Galizien stammender Vater Baruch Milch war Gynäkologe und leitete das städtische Krankenhaus im polnischen Oppeln, bis er 1946 als Jude der Stadt verwiesen wurde. Die Eltern wanderten 1948 in Israel ein. Ella absolvierte nach ihrem Militärdienst ihr Studium der Komposition und des Gesangs (Mezzosopran) an der Rubin Academy of Music der Universität Tel Aviv. Im Jahr 2005 erhielt sie den israelischen Premierminister-Preis. Von da an und bis 2008 komponierte sie zwei Opern – Und die Ratte lacht und Flugstunden – sowie ein Werk für Chor und Orchester, Dark am I, anschließend ein Streichquartett und ein Klavierkonzert. Die Kammeroper Baruchs Schweigen brachte Ella Milch-Sheriff den Durchbruch in Europa, die Oper erlebte seit 2010 zahlreiche Aufführungen im deutschsprachigen Raum, auch in Wien im Jahr 2016. Am 14. November 2015 wurde in der Bundeskunsthalle Bonn die auf Hebräisch und Polnisch gesungene Kammeroper Gespräch mit einem Stein nach einem Text von Wisława Szymborska szenisch uraufgeführt. © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

 

Diese, Ihre erste Oper wurde ein Riesenerfolg und an vielen Orten aufgeführt. Wie ging es Herrn Sheriff damit?

Milch-Sheriff: Das war nicht leicht für uns, denn Noam hatte mein Talent nie ignoriert, aber durch meinen Erfolg stand er plötzlich nicht mehr so im Zentrum der Aufmerksamkeit.

In der langen jüdischen und israelischen Geschichte gibt es unglaublich viele außergewöhnliche Frauen mit aufregenden Schicksalen. Alma Schindler, die mit Gustav Mahler und Franz Werfel sogar zwei jüdische Ehemänner hatte, war berüchtigt für ihren Antisemitismus. Hat Sie das nicht gestört?

Milch-Sheriff: Ganz im Gegenteil, ich sehe sie als Teil jenes Wiens und jener Wiener Gesellschaft, die durchwegs antisemitisch war. Daher muss man Alma als Frau und Künstlerin auch in und mit ihrem damaligen Umfeld sehen: Sie lebte in einer nichtemanzipierten Welt, die es nicht nur Frauen schwer machte, sondern die auch Juden verachtete, die sich nach gesellschaftlicher Akzeptanz auf Augenhöhe sehnten. Ich habe mit Ido Ricklin, der das Libretto zu Alma schuf, sehr viel darüber diskutiert, und einige ihrer schlimmen Schmähungen finden sich im Text. Ido hatte zuerst einige Alma-Originalzitate eingebaut, die so schrecklich waren, dass ich ihn bat, diese herauszunehmen, weil ich dazu keine Musik kreieren kann und will. Das kann man unmöglich singen.

IDO RICKLIN, 1966 in Israel geboren, besuchte die Thelma Yellin School of Arts sowie die Central School of Speech and Drama in London. 1994–1995 war er Regisseur am Nationaltheater Habima, anschließend arbeitete er als Hausregisseur am Beer Shewa Theater. Ricklin hat zahlreiche Theaterstücke geschrieben, darunter The Shortest Night of the Year, The Hunchback of Notre Dame sowie Theateradaptionen von Henrik Ibsen und Romain Gary. Seine Inszenierungen waren an allen Theatern Israels zu sehen, aber auch am Deutschen Theater in Weimar, Heidelberg, Darmstadt oder Braunschweig. Ferner übersetzte er zahlreiche Dramen vom Englischen ins Hebräische. Großen Erfolg bescheren ihm derzeit die Aufführungen von Theodor an der Israeli Opera Tel Aviv, eine Oper, die er mitgeschrieben und inszeniert hat: Im Zentrum des Stücks stehen dabei zwei Perioden im Leben des Visionärs Theodor Herzl: Dem alten Mann, der träumt und sich fragt, wo der Staat sich hinentwickelt, steht dabei der junge Mann mit noch unbeschwerten Ideen gegenüber. © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

 

Ido Ricklin, Sie sind seit 2018 Chefdramaturg der Israeli Opera Tel Aviv, haben zahlreiche Dramen geschrieben und viele Inszenierungen an allen Theatern in Israel und auch international realisiert. Ihre Bühnenfassung von Der Graf von Monte Cristo hat Ihnen den renommierten Israeli Theater Award für die beste Produktion als Dramatiker und Regisseur eingebracht. Aber Sie hatten bislang nie ein Opernlibretto verfasst. Wie kam es bei Alma dazu?

Ricklin: Ich habe 2010 Ellas erste Oper, Baruchs Schweigen, in Braunschweig inszeniert, seither blieben wir in Kontakt, weil man Ella einfach lieben muss. Als sie mich vor drei Jahren anrief und von der Oper Alma zu erzählen begann, war ich entschlossen, ihr abzusagen. Das wollte ich aber netterweise persönlich tun. Wir saßen ein paar Stunden zusammen, und sie redete, erklärte und erzählte. Am Schluss fragte sie: „Wirst du das Libretto schreiben?“ Und ich hauchte nur mehr: „Ja!“

„Ich hoffe, dass man einen erweiterten Blick auf diese Frau gewinnen wird.“
Ella Milch-Sheriff

Wie erging es Ihnen dann mit den antisemitischen Sprüchen, die Sie aus dem Material über Alma Mahler gesichtet haben?

Ricklin: Wir haben tage- und nächtelang über den dramaturgischen Aufbau gesprochen, denn ich kann zwar einen Charakter gut zeichnen und Originalzitate einbauen, aber die Komponistin muss die Musik, die richtige Tonalität dafür finden. Bei Alma ist ihr das sehr gut gelungen. Ich habe zwei Jahre am Libretto dazu geschrieben, oft auch in der Nacht, denn einiges kommt ganz leicht daher, anderes muss man sich schwer erarbeiten. Es sind eigentlich fünf Erzählungen, weil das Stück über fünf Akte läuft. Erst als ich und auch die Übersetzung aus dem Hebräischen von Anke Rauthmann fertig waren, hat Ella nach dem deutschen Text zu komponieren begonnen.

Milch-Sheriff: Ido hat ein ganz wunderbares Libretto verfasst, er hat auch vieles an meinem ursprünglichen Konzept ändern wollen. Nach diskursiven Kämpfen habe ich dann immer nachgegeben, weil Ido eine unglaubliche Intuition für die Musik hat, obwohl er kein Musiker ist. Ricklin: Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Drama oder ein Libretto verfasst. Denn man muss der Musik ihren Platz geben, weil es vieles gibt, das sich nicht durch Worte, sondern nur durch Musik ausdrücken lässt.

Ihre zahlreichen Kompositionen umfassen symphonische Musik genauso wie Kammermusik und bisher fünf Musiktheaterwerke. Außer den für Sie persönlich wichtigen Themen haben Sie sich auch sonst „schwere“ Stoffe zur Vertonung ausgesucht, z. B. für Ihre Oper Die Banalität der Liebe über die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Martin Heidegger, die 2018 in Regensburg uraufgeführt wurde. Oder für das symphonische Werk Der ewige Fremde, in dem Ludwig van Beethoven träumt, er sei in Jerusalem. Was bewegt Sie, Musik zu solchen Themen zu schreiben?

Milch-Sheriff: Die israelische Autorin Savyon Liebrecht hat das gleichnamige Theaterstück geschrieben, ich schätze sie sehr und wollte mit ihr arbeiten. Mich interessieren umstrittene Persönlichkeiten, und diese verrückte Liebesgeschichte zwischen Heidegger und Arendt hat mich gereizt. Ich liebe es, Fragezeichen in meinen Werken zu hinterlassen. Ich weiß nicht, wie das Publikum auf Alma reagieren wird, ob sie sich mit ihr solidarisieren, ob sie sie bemitleiden, sie hassen oder lieben werden. Ich hoffe aber, dass man wenigstens einen erweiterten Blick auf diese Frau gewinnen wird.

Die musikalische Leitung der Uraufführung von Alma an der Wiener Volksoper liegt in den Händen von Omer Meir Wellber. Sie haben bereits zusammengearbeitet, z. B. beim Monodrama für Sprecher und Orchester Der ewige Fremde, dessen Uraufführung Wellber 2020 in Leipzig dirigierte. Wodurch entstand Ihre enge Kooperation?

Milch-Sheriff: Omer hatte schon mein Musikstück Halbtöne mit dem Raanana Symphony Orchestra aufgeführt, das auf dem jiddischen Text einer gebürtigen Wienerin, Beile Schächter-Gottesmann (1920–2013), basiert. Er sagte damals bereits, dass er sich in meine Musik verliebt habe. Omer hat mir danach zwei Kompositionsaufträge verschafft: zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven 2020 den Ewigen Fremden für das Gewandhaus Leipzig, das BBC Symphonic und das Teatro Massimo in Parlemo und die Orchestrierung der letzten Bach-Fuge, die Bach nicht mehr vollendete. Meine Musik in der Leipziger Thomaskirche, der Wirkungsstätte Bachs, war ein unbeschreibliches Erlebnis für mich. Omer dirigierte dort, dann wurde die Komposition in Schweden, Hamburg und im Dezember 2023 in Wien aufgeführt.

⇒ volksoper.at/produktion/alma-2024.de.html

Wie kam es zu Alma an der Volksoper Wien?

Milch-Sheriff: Als ich Omer Wellber wegen des Dirigats für Alma anfragte, hatte ich schon fast einen Vertrag in Deutschland unterschrieben. Er sagte: „Bitte warte noch damit, ich habe eine andere Idee!“ Er war damals schon im Gespräch über seinen Vertrag in Wien, es war aber noch nicht offiziell. Dann hat es noch einige Zeit gedauert, bis er und Lotte de Beer anriefen, um uns den Auftrag zu erteilen.

Wie haben die Ereignisse vom 7. Oktober Ihre schöpferische Schaffenskraft beeinflusst?

Milch-Sheriff: Ich fiel in ein tiefes seelisches Loch: Ich war lange Zeit unfähig zu komponieren, konnte überhaupt keine Musik hören oder ertragen. Nach etwa sechs Monaten schaute ich auf meinen Vertrag mit der Volksoper und entdeckte, dass mein Klavierauszug schon fällig war. Zuerst schaffte ich nur Technisches, aber dann half mir die Disziplin, mich vom Alltag zu lösen und Tag und Nacht Musik zu schreiben. Zum ersten Mal überschritt ich meinen Abgabetermin, erfreulicherweise hatte die Volksoper Verständnis für diese Ausnahmesituation.

Ido Ricklin, Sie arbeiten an der Israeli Opera Tel Aviv. Haben Sie den Eindruck, dass das kulturelle Leben in Israel nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 wieder in regulären Bahnen läuft?

Ricklin: Nein. Wir fühlen uns noch immer wie auf einer rotierenden Scheibe, von der wir nicht abspringen können. Als die Israeli Opera im Winter 2023 unsere Oper Theodor über Herzl (siehe Biokasten) wieder in den Spielplan nehmen wollte, konnten wir uns nicht vorstellen, wie das Spielen und Singen überhaupt gehen sollte. Aber das Publikum kam und war froh über die Ablenkung, vielleicht auch über den Eskapismus. Die Kunst muss Hoffnung geben, sie muss die Menschen aufrichten, der Menschlichkeit wieder ihren gebührenden Platz geben.

Wie sehen Sie als kreative Israelin die Zukunft?

Milch-Sheriff: Von den Vorstellungen meiner Eltern als Shoah-Überlebende, dass Israel – trotz der zahlreichen Kriege und Krisen seit 1948 – unser sicherer Hafen ist, sind wir am 7. Oktober 2023 schockartig geheilt worden. Derzeit gehe ich zu allen Demonstrationen im Land und bin in der neuen Partei „Die Demokraten“, einem Zusammenschluss der Arbeiter-Partei Avoda und Meretz, aktiv geworden. Zu meiner großen Überraschung bin ich von 831 Delegierten, von denen ich genau fünf kenne, in die Exekutive gewählt worden. So kann ich wenigstens etwas tun, denn ich komme mit den neuen Realitäten gar nicht zurecht.

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