Als Bagdad jüdisch war

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Ein Gesprächs- und Interviewband lädt ein, die kaum bekannte Geschichte des Judentums im Irak zu entdecken. Von Alexander Kluy

Das Buch Iraks letzte Juden ist ein wichtiges, ein bewegendes Memorial. Und ein eminentes Zeugnis. Es ist eine archäologische Erinnerung an eine Zeit, als jeder dritte Einwohner Bagdads Jude war (1917: 202.000 Einwohner – davon knapp 80.000 Juden); und es ist Erinnerung an eine der am längsten existierenden Gemeinden.

Ungefähr 2.500 Jahre lang gab es eine jüdische Gemeinschaft in Babylon, in Mesopotamien, im Irak. Lange waren sie, worauf Shmu­el Moreh in seiner klugen, konzisen Einleitung verweist, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich gut integriert. Bis zum abrupten Exodus im Jahr 1950, als buchstäblich über Nacht im Zuge der Operation „Esra und Nehemia“ rund 124.000 der 137.000 irakischen Juden nach Israel übersiedelten.

Oded Halahmy, 1938 in Bagdad geboren, 1951 nach Israel übersiedelt, lebt heute als Künstler in New York City und Jaffa: Viele meiner schönsten Erinnerungen an den Irak sind mit den wundervollen Mahlzeiten im Kreise meiner Familie verbunden. Meine Mutter kochte mit der Hilfe einer Dienstmagd. Die beiden waren hervorragende Köchinnen, und wenn ich mich an die Mahlzeiten erinnere, die die beiden zubereiteten, dann läuft mir noch heute das Wasser im Munde zusammen. […] Meine Mutter bereitete oft bamya [Okra] zu, praktisch ein Grundnahrungsmittel der Iraker, das auf unzählige verschiedene Arten zubereitet wurde. Die Enden der bamya waren sehr klebrig, und wir schnitten sie ab und legten sie zum Trocknen in die Sonne. Dann wurden sie mit dem hawan [Mörser und Stößel] fein zerstoßen und mit Wasser vermischt, wobei sich eine klebrige Paste bildete. Diese Mixtur verwendeten wir als Andickmittel für Mango- und andere Saucen. Ich klebte im Sommer damit auch meine Drachen zusammen.“

Dennis und Robert Shasha, beide irakischstämmige Juden, haben Dutzende von Gesprächen transkribiert, sensibel redigiert, in eine flüssige, zusammenhängende Erzählform (ohne Zwischenfragen) gebracht und dramaturgisch klug in mehreren Kapiteln arrangiert: Der Irak, unser Land, Das Wagnis, Nicht länger unser Land und Der Blick von außen. Die Erinnerungen von Juden unterschiedlicher Generationen, unterschiedlicher sozialer Herkunft, weit gespreizter politischer Ansichten und gesellschaftlicher Betätigungsfelder summieren sich zu einem abwechslungsreichen, lebendigen und aufschlussreichen Panorama jüdischen Lebens.

Die Bedeutung der Juden für das Land wird ebenso deutlich wie der Wandel, der Hass, die immer rigider werdenden Diskriminierungen und Ächtungen seit den 1930er-Jahren, die Verschlechterung der Lebensverhältnisse, mündend im farhoud, dem Pogrom am 1. und 2. Juni 1941, und in den unablässigen drakonischen Unterjochungsversuchen von 1945 bis zu Saddam Hussein.

Salim Sassoon, geboren 1909: „Obwohl viele Juden die 1920er- und 1930er-Jahre als die beste Zeit für die Juden im Irak erinnern, war doch der Judenhass der Muslime immer gegenwärtig und tief verwurzelt. Nur zu gern hätte ich alles hinter mir gelassen und wäre ausgewandert. Aber ich saß im Irak fest, denn ich musste mich um meine Eltern und Verwandten kümmern. Mitte der 1920er-Jahre war mein Vater bereits ziemlich alt und finanziell von mir abhängig. Mein Weggang wäre ein existenzieller Schlag für ihn gewesen.

Entschieden zu bleiben, beschloss ich das Beste aus meinem Leben in Bagdad zu machen. Ich habe auch einige sehr schöne Erinnerungen daran. […] Ich war Mitglied des Laura-Khadourie-Clubs, eines wunderschönen Anwesens im besten Teil der Stadt. Sein Erbauer Eliezer Khadourie benannte den Klub nach seiner Frau. Es war ein großes Anwesen mit ausladenden üppigen Grünflächen, Tennisplätzen und großen Räumen für die kalte Jahreszeit. Es war der Treffpunkt vieler meiner Freunde, ausschließlich Juden, und wurde, wie für viele andere auch, mein zweites Zuhause. Ich verbrachte meine gesamte Freizeit hier. Wir spielten und unterhielten uns, und oft war ich zum Abendessen und auf ein paar Drinks im Klub. An manchen Abenden spielte die Chalghi Band [eine klassische irakische Instrumentalgruppe], und wir blieben bis in die späten Nachtstunden im Klub. Meine weiteren Vergnügen in Bagdad waren Bootsfahrten, Baden im Tigris, Picknicks am Ufer und das Essen von mazgouf, ein köstliches irakisches Fischgericht. Im Jahr 1933 starb mein Vater im Alter von 86 Jahren an einem Leistenbruch – auch eine Krankheit, die im Westen leicht zu behandeln gewesen wäre, die im Irak aber oft tödlich verlief. […] Dann kam der erste Tag des farhoud 1941. Ich wollte gerade zu meinem Freund Abdulla Elias gehen, der in der Nähe wohnte. Er kam aus der Stadt und hatte auf der Rückfahrt mit eigenen Augen den Ausbruch des Pogroms miterlebt, und ich wollte von ihm Neuigkeiten zu den Vorkommnissen erfahren. Unterwegs verfolgten mich plötzlich drei bewaffnete Soldaten, und einer verstellte mir […] den Weg. Ich kämpfte mit ihm und versuchte, Abdullas Haus zu erreichen, doch die Tür war verschlossen. Die drei Soldaten rissen mich nieder, feuerten Schüsse über meinen Kopf, und einer stieß mir sein Messer in die Brust und schlitzte mir das Handgelenk auf. Eine Muslimin kam hinzu und warf mit Steinen nach mir, um mir den Rest zu geben. Als sie davonliefen, sah ich, auf dem Boden liegend, wie meine Mutter von unserem Fenster aus hilflos zuschaute.“

Iraks letzte Juden ist die Erzählung vom Erlöschen des Judentums im Zweistromland, von der letzten Generation der letzten Juden im Irak. Heute leben weniger als zwölf, zumeist hochbetagte Juden in Bagdad. Das jüdische Erbe, die jüdische Kultur sind – bis auf wenige Ausnahmen – verdunstet, vergangen, verweht.

Shlomo el-Kivity, Sohn von Saleh el-Kuwaity (1908–1986): „Mein Vater war Komponist und spielte Geige, mein Onkel war Sänger und spielte oud [ein der Gitarre ähnliches klassisches irakisches Instrument]. Mehr als alles andere aber war mein Vater ein Erfinder und Erneuerer. Auf der Basis der traditionellen maqam-Musik gab er den allseits bekannten Liedern eine neue Dimension, einen frischen Stil. Sein Publikum war begeistert!

In der arabischen Welt gab es nur zwei Musiker, die dies beherrschten: meinen Vater im Irak und Mohammed Abdul Wahab, einen der berühmtesten Musiker Ägyptens. Diese beiden Komponisten schufen aus einer Musik, die sich seit zwei- bis dreihundert Jahren nicht verändert hatte, neue Lieder. Maqam ist eine Art des musischen Gesangs. Die Sänger werden kari genannt – was von dem hebräischen Verb li’kroh abgeleitet ist und lesen bedeutet. Der Text eines maqam folgt einer Geschichte und einem strikten, klaren Muster, das streng eingehalten werden muss. Bis diese beiden Komponisten kamen, hatte niemand auch nur versucht, die maqam-Lieder – von denen es insgesamt 52 gibt – zu verändern oder zu aktualisieren. Es gab zwar großartige Musiker, die maqam wunderschön spielten, aber keiner brach aus den vorgegebenen Grenzen aus.

Nun kann man natürlich nicht in ein Land kommen, in dem seit Hunderten von Jahren maqam gespielt wird, und plötzlich einen Tango anstimmen. Das würde die Menschen überfordern. Mein Vater war erfolgreich, weil er immer nur ein ganz klein wenig veränderte, und das über einen langen Zeitraum hinweg. Er nahm sich zwanzig Jahre Zeit für diese kleinen Änderungen. […] Die Musik, die heute im Irak gespielt und komponiert wird, stützt sich auf die Ideen und Konzepte der Musik meines Vaters.

Das nicht zuletzt gut übersetzte und sorgfältig edierte Buch inklusive Zeittafel und weiterführender Literatur ist ein bewegendes, Augen öffnendes und nicht hoch genug zu lobendes Memorial. Ähnliches wünscht man sich über viele andere Diasporagemeinden.

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