„Als Kind schien Religion für mich etwas Gefährliches“

Raoul Kneucker war in der österreichischen Forschungspolitik maßgeblich tätig – als Generalsekretär der Rektorenkonferenz und des Wissenschaftsfonds. Seine Frau war Mitbegründerin der reformjüdischen Gemeinde in Wien. Eine seiner Töchter lebt heute in Israel.

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© Ronnie Niedermeyer

WINA: Dein Vater entstammte einer protestantischen Familie mit jüdischen Wurzeln, deine Mutter einer katholischen Familie. Welche Rolle spielte für euch daheim die Religion, während du aufgewachsen bist?
Raoul Kneucker: Wie viele damals, konvertierte der Vater meines Vaters noch vor dem Ersten Weltkrieg zum Protestantismus. Mein Vater war bereits als Jugendlicher ein erklärter Atheist, distanzierte sich jedoch nie vom verfolgten Judentum – schon gar nicht in der Emigration in Shanghai und in den USA, wo er als Professor der Urologie Karriere machte. Er war ein großer Humanist und half allen, wo es nur ging. Meine Mutter, religionsfern, entstammte einer katholischen Familie. Mich in der protestantischen Kirche zu taufen, schien im Jahre 1938 ein tragbarer Kompromiss zwischen den Eltern zu sein; sie hofften aber wohl auch, mir das Nazi-Ungemach zu ersparen. Wie durch ein Wunder gelang es. Als Kind schien Religion für mich etwas Gefährliches: Mein Vater musste aufgrund der Religion seiner Vorfahren emigrieren; sein Vater wurde 1942 deportiert und im KZ ermordet; meine katholische Mutter wurde nach Slowenien strafversetzt.

Du hast dich eingehend mit dem Judentum beschäftigt – einer Religion, die sich auch durch zahlreiche Gesetze und Reglementierungen definiert. Inwieweit hat dich dieses Wissen in deiner Arbeit als Jurist beeinflusst?
❙ Was Judentum ist und sein kann, habe ich erst im Rahmen meines Fulbright-Stipendiums an der Brandeis University in Boston begriffen. Ein Zeichen für Offenheit und Religionsfreiheit an dieser Uni waren die drei „Kapellen“, wovon ich die jüdische besuchte. Dort lernte ich Linda kennen und lieben. Wir entschieden uns, in der gemeinsamen Ehe unsere Religionen beizubehalten, Christentum und Judentum sogar bewusst zu praktizieren und unsere Kinder jüdisch zu erziehen. Jüdische Literatur und Geschichte zu verinnerlichen, bedeutete für mich auch, jüdisches Rechtsverständnis zu studieren. Für ein angemessenes juristisches Verständnis gilt es, alles zu hinterfragen, um damit die Hintergründe zu verstehen, zu diskutieren und argumentieren zu können. Das ist mein Ziel in der Rechtswissenschaft geblieben, geschärft durch meine Beziehung zum Jüdischen.

»Für ein juristisches Verständnis gilt es,
alles zu hinterfragen.«

Du bezeichnest dich als „lebende Brücke zwischen den Religionen“. Die Aufgabe einer Brücke ist es, Zugang zu erleichtern – wie findet das konkret bei dir statt?
❙ Mehr als „Brücke“ sehe ich mich als Beispiel für die Lebendigkeit der jüdischen Wurzeln im Christentum. Ohne Wurzeln fehlt das besondere Verständnis für das Eigene. Obwohl meine Frau nicht mehr lebt, halte ich bis heute die jüdischen Feiertage neben den christlichen. Als Professor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sicherte ich im Fach Religionsrecht die Bearbeitung der Grundzüge des Rechts und der institutionellen Strukturen aller anerkannten Religionsgesellschaften: Die Studierenden müssen sich bewusst werden, dass ohne diese Kenntnisse keine Ökumene wirksam sein kann.

Deine selige Gattin Linda hatte ihren Background im US-amerikanischen „konservativen Judentum“. Wie kam es dazu, dass sie in Wien die Reformgemeinde Or Chadasch mitbegründete?
❙ Sobald wir nach Wien kamen, kontaktierte Linda lokale jüdische Gruppen und engagierte sich für sie. Als „Fremde“ fühlte sie sich jedoch oft beengt, manchmal sogar ausgeschlossen. Als sie die Aufforderung erreichte, die Gründung einer liberalen jüdischen Gemeinde mitzutragen, stimmte sie zu und stürzte sich in die Aufbauarbeit. Wichtig war ihr dabei eine Besinnung auf das Wesentliche einer jüdischen Gemeinschaft. Mehrere Jahre wirkte sie im Vorstand von Or Chadasch. Wir beherbergten die ersten Gastrabbiner in unserem Haus; an den Festtagen bereicherte Linda regelmäßig die Buffets mit ihren Brownies.

Um den Kreis zu schließen: Welche Rolle spielt die Religion im Leben deiner Kinder?
❙ Im Leben unserer Kinder spielt sie eine herausfordernde Rolle – etwa bei meinem Sohn, der sich heute als Atheist sieht. Atheisten sprechen und diskutieren bekanntlich ständig über Religion, so auch er. Freilich feierte er seine Bar Mizwa in der Wiener Hauptsynagoge, war stolz auf sein Prüfungsgespräch beim Herrn Oberrabbiner und freute sich darüber, dass seine Schulklasse am G’ttesdienst und an der Feier teilnahm. Meine ältere Tochter Fanny entschied sich für das Christentum, meine jüngere Tochter Hannah ist bekennende und praktizierende Jüdin. Sie lebt heute in Israel.

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