Als ob ich auf jemanden wartete

Marga Minco – eine Neuentdeckung der 100-jährigen niederländischen Autorin ist hierzulande überfällig. Zwei neu übersetzte Bände bieten Großes und Bewegendes.

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Marga Minco: Ein leeres Haus. Roman. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag 2020, 172 S., € 22,70

Wer erinnert sich noch an den Extrapavillon auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2016? In diesem darf sich alljährlich ein anderes Land, eine andere Region als Ehrengast präsentieren – vor vier Jahren waren es die Niederlande und Flandern, der Niederländisch sprechende Teil Belgiens. Es war nach mehr als 20 Jahren der zweite Gastaufritt, doch im Gegensatz zum ersten im Jahr 1993 – damals führten Harry Mulisch und Cees Nooteboom, die wohl größten lebenden Erzähler der um 1930 geborenen Generation, die Autorenkohorte an und fanden fast über Nacht ein Publikum und große Verlage im deutschsprachigen Raum – war der Nachhall überschaubar. Überschaubar bis kaum bei der Leserschaft mehr verifizierbar.
Eine Autorin kam gar nicht vor, und das gleich zwei Mal. Obschon sie allein schon ob ihres Alters – geboren am 31. März 1920 – als Doyenne der niederländischen Nachkriegsliteratur gelten darf. Ihr Name: Marga Minco. Ihre Publikationsliste: beeindruckend lang. Hierzulande aber nicht einmal ein Geheimtipp.

Marga Minco: Das bittere Kraut. Eine kleine Chronik. Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Arco Verlag 2020, 96 S., € 18

Das sollte sich nachhaltig und dringlich, am besten sofort ändern dank der Initiative des Wiener Arco Verlags, der in Wuppertal in Deutschland, zu der auch Elberfeld als Stadtbezirk gehört, der Geburtsort Else Lasker-Schülers, noch immer ein Spielbein unterhält. So wie die große, im Jerusalemer Exil sich und der Welt abhandenkommende Lyrikerin meinte, sie lebe nur noch, vergessen, im Wort, im Gedicht, so hielt Marga, die eigentlich Sara heißt – auf den Vornamen „Marga“ lauteten nach 1940 ihre falschen Papiere; sie behielt den Vornamen seither bei – das Leben im Erinnern nach dem Überleben, im Weiterleben fest, schrieb von Traumata nach Verfolgung, Auslöschung, Tod.

„Schon nach zwei Tagen sahen wir die Besatzungstruppen auf der Landstraße fahren, und wenige Stunden später kehrten die Evakuierten wieder in die Stadt zurück.“

Davon handelt Het bittere kruid. In 22 kurzen Kapiteln, intensiven Erinnerungsvignetten gleichend, berichtet Minco, die 1938 in ihrer Heimatstadt Breda als Jungjournalistin begann, mit dem Einmarsch der Deutschen 1940 eine der Allerersten war, die von einer niederländischen Zeitung gekündigt wurde, von den Jahren zwischen 1940 und 1944/45. Wie anfangs manches leichtgenommen, als harmlos und vorübergehend eingestuft wird. Wie ihre Familie geächtet, geschnitten und mit dem gelben Stern optisch gebrandmarkt wird. Wie sie sich durchschlagen müssen. Wie ihre Eltern nach Amsterdam übersiedeln, um sich dort mit Hilfe von Bekannten über Wasser zu halten. Wie erst die Schwester deportiert wird nach Osten, dann die Eltern verschwinden. Wie die Ich-Erzählerin zum untergetauchten Bruder und zur Schwägerin flieht, dann aufs Land, bei mehreren Bauern Unterschlupf findet, stets nur geduldet, solange etwas Geld fließt. Und wie sie dann mit Kriegsende nach Amsterdam trampt, dabei Yona, einer ebenso jungen Frau, begegnet, ebenfalls Jüdin, die ebenfalls Krieg, Besatzung und Verfolgung in einem Versteck überlebte, in ihrem Fall einer winzigen Dachkammer. Sie will Spuren ihrer Familie finden, irgendwo, irgendjemanden oder irgendetwas. Um schließlich festzustellen, dass von ihrer sehr großen Familie und Verwandtschaft, einst an die 60 Köpfe zählend, nur ein Onkel überlebte, der dank seiner christlichen Ehefrau unangetastet blieb. Dieser stirbt, vorzeitig gealtert, nach kurzer Zeit ebenfalls, an gebrochenem Herzen und unerfüllter Sehnsucht. Ab Mai 1945 war er jeden Tag zur nächstgelegenen Trambahnhaltestelle gegangen und wartete. Und wartete.

Sie will Spuren ihrer Familie finden, irgendwo, irgendjemanden oder irgendetwas.

Das bittere Kraut erschien erstmals 1985 in deutscher Übersetzung, zehn Jahre später als Taschenbuch. Und ist hierzulande skandalös vergessen. In Carel ter Haars Lesebuch Jüdisches Amsterdam fand sich 1993 neben Multatuli, Egon Erwin Kisch und Konrad Merz, neben Grete Weil und Leon de Winter auch ein Auszug aus dieser „kleinen Chronik“. Ohne jedes Echo – was massiv wider Klugheit und Qualitätsbefähigung der Verlagslektorate spricht. Dabei ist Mincos schmales Buch ein populärer moderner Klassiker. Erstmals 1957 in einem Amsterdamer Verlag erschienen, hat es bis zum Jahr 2017 in den Niederlanden 55 (!) Nachauflagen erlebt. Was mathematisch bedeutet: Alle dreizehn Monate wurde nachgedruckt. Der Grund liegt auf der Hand. Es sind die Eindringlichkeit, das Fehlen jedes Anhauchs von Pathos oder falscher Gefühle. Vor allem aber ist es die einfache, an keiner Stelle gekünstelte Sprache, die dieses Buch in Marlene Müller-Haas sehr guter Neuübersetzung so besonders macht. Kein Wunder, dass der Arco Verlag, ansonsten der alten Rechtschreibung verpflichtet, hier eine Ausnahme gemacht hat – auf dass diese Prosa auch an Schulen gelesen werde. En masse hoffentlich und überall.
Neun Jahre nach diesem großen kleinen Buch veröffentlichte Minco den Roman Ein leeres Haus. Er setzt dort ein, wo Das bittere Kraut endet, im Juni 1945. Und macht dann zwei Zeitsprünge: in den März 1947 und in den April 1950. Sepha hat gleich nach Kriegsende den jungen Mark geheiratet, mit dem sie das letzte Jahr in einem Untergrundversteck verbrachte. Er sucht Anstellung im Journalismus, sie weiß nicht so recht, was mit dem Leben anstellen. Innere Leere füllt sie mit Affären. Und ist immer noch befreundet mit Yona, die weder emotional noch beruflich Stabilität zu finden vermag. Dann, 1947, der Versuch einer Abnabelung in Banyuls in Südfrankreich, erotische Abenteuer, das Gefühl von Freiheit, die Rückkehr nach Amsterdam. 1950 – Antisemitismus flammt allerorten wieder auf – die geplante Übersiedlung in eine Neubauwohnung, Ehe auf der Kippe, leere Herzen, große Sehnsüchte, ein Selbstmord aus elementarer Verzweiflung.
Man entdecke, man lese diese große Autorin!

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