Alte Feindbilder in neuem Gewand

Für das 33. Jüdische Filmfestival haben Rita Jelinek, die Koordinatorin, und Festivalleiter Frédéric-Gérard Kaczek den renommierten französischen Soziologen Michel Wieviorka als Eröffnungsredner eingeladen. WINA hat den bekannten Wissenschaftler zum Gespräch getroffen.

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„Viele Menschen sind skeptisch geworden und vertrauen nicht mehr auf den Fortschritt oder die Errungenschaften der Wissenschaft.“ © ULF-ANDERSEN_Aurimages-via-AFP

WINA : Wie lässt es sich erklären, dass 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz der Antisemitismus erneut so stark ausgeprägt ist?

Michel Wieviorka: Nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich verschiedene Phasen des Antisemitismus identifizieren. Der Holocaust spielte bis zur Mitte der 1960er-Jahre in Frankreich kaum eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. In dieser Zeit ging der Antisemitismus in Frankreich zurück. Viele Franzosen hatten nur begrenztes historisches Wissen über das Thema, trotz der Existenz einiger Filme und politischer Debatten. Außerdem kündigte die katholische Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) an, dass sie dem Judenhass ein Ende setzen wolle. Diese Erklärung hatte eine bedeutende Wirkung.

In den späten Siebzigerjahren lief in Frankreich die TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss. Im Jahr 1985 folgte der beeindruckende zweiteilige Dokumentarfilm Shoah von Claude Lanzmann. Beide Produktionen hatten einen bedeutenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung und trugen erheblich zur Vertiefung der Diskussion über das Thema bei. Darüber hinaus erlangten jüdische Künstler wie Philip Roth oder Woody Allen internationale Berühmtheit. In ihren Werken befassten sie sich offen mit ihrem jüdischen Erbe, und das Publikum, unabhängig von der eigenen Herkunft, schätzte ihre Kunst. Ihre

Werke waren nicht ausschließlich für ein jüdisches Publikum bestimmt. Auch hatte Israel in den späten Sechzigerjahren ein sehr gutes Image. Sicher nicht für alle, aber Israel war der Sieger im Kampf David gegen Goliath. Es war das Land, das den Sechstagekrieg gewann. Israel war in der internationalen Wahrnehmung auch ein Land, das die Wüste zum Blühen brachte. Israelis lebten in Kibbuzim, was für sozialistisch orientierte Menschen ein wahrgewordenes Traumprojekt bedeutete.

 

„Nach den 1960er- und 1970er- Jahren gab es für
Juden vielleicht 15 Jahre wenig Antisemitismus,
danach begannen die Schwierigkeiten erneut.“

 

Es war auch die Zeit des beginnenden Verständnisses des Holocaust, als die schockierenden Erkenntnisse über die erlittenen Gräueltaten medial ans Licht kamen. Viele Menschen begannen endlich zu begreifen, welches Unrecht Juden widerfahren war. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass der Antisemitismus in dieser Zeit schwach ausgeprägt war.

Doch dann tauchte er Ende der 1980er-Jahre wieder auf. Zunächst bei der extremen Rechten in verschiedenen europäischen Ländern. In dieser Zeit gewannen die sogenannten „Negacionistes“, die Holocaust- Leugner, zunehmend an Einfluss. Zudem waren viele Menschen in den 1980er- und 1990er-Jahren müde geworden von den ständigen Informationen über die Shoah; sie wollten nicht mehr darüber hören. Die Gesellschaft begann, die Shoah mit anderen Völkermorden zu vergleichen, was dazu führte, dass die Verbrechen des NS-Regimes relativiert wurden. Auch das Phänomen des Opfer-Wettbewerbs war in dieser Zeit stark ausgeprägt.

Ende der 1980er-Jahre begann sich auch das Image Israels zu verschlechtern. Ein entscheidender Wendepunkt war das Massaker von Sabra und Shatila im Libanon 1982, als israelische Soldaten nicht gegen die christlichen Milizen vorgingen, die palästinensische Flüchtlinge ermordeten. Zwar trug die israelische Armee nicht direkt die Verantwortung für die getöteten Menschen, jedoch war sie anwesend und handelte nicht, um die Morde zu stoppen. Diese Veränderungen im Bild Israels führten nicht nur zu einem veränderten Verständnis der Shoah, sondern intensivierten auch den Antisemitismus.

Michel Wieviorka: Die Gewalt. Edition Hamburg 2006, 230 S., 25 €

Gleichzeitig erlebten viele europäische Länder bedeutende demografische und bevölkerungspolitische Veränderungen. In Frankreich sowie in anderen Ländern nahm die Zahl der Migranten zu, wobei die meisten von ihnen aus arabischen oder muslimischen Regionen stammten. Diese neue Bevölkerungsgruppe war einerseits Opfer von Rassismus

und sozialen Schwierigkeiten, entwickelte andererseits aber auch eine starke Identifikation mit den Palästinensern als Nation und dem Islam als Religion. Sie befanden sich nun in europäischen Ländern und nicht mehr außerhalb. In Frankreich leben rund 420.000 jüdische Menschen, es ist die größte jüdische Bevölkerung Europas. Mit dem Wiederaufflammen des Antisemitismus durch die extreme Rechte kam zudem ein Antisemitismus aus der muslimischen Bevölkerung hinzu. Zusammenfassend lässt sich sagen: Nach den 1960er- und 1970er-Jahren gab es für Juden vielleicht 15 Jahre wenig Antisemitismus, danach begannen die Schwierigkeiten erneut.

 

Warum fällt es so leicht, Fake News zu glauben?

I Fake News tragen maßgeblich zur aktuellen Stärke des Antisemitismus bei und sind ein wesentlicher Bestandteil des Problems. In den sozialen Netzwerken können wir heute unkontrolliert mit einer Vielzahl von Menschen kommunizieren, was die Situation grundlegend verändert hat. Zudem leben wir in einer Zeit, in der die Bedeutung der Wissenschaft oft in Frage gestellt wird. Viele Menschen sind skeptisch geworden und vertrauen nicht mehr auf den Fortschritt oder die Errungenschaften der Wissenschaft. Anstatt denjenigen Glauben zu schenken, die behaupten, die Wahrheit zu verkünden, wenden sich zunehmend mehr Menschen von diesen ab. Wissenschaftlern wird nicht geglaubt, Journalisten wird nicht geglaubt, Politikern wird nicht geglaubt. Wenn man aufhört, den Schlüsselpersonen zu vertrauen, wird die eigene Sichtweise zur einzigen, die als glaubwürdig erscheint. Im Internet findet man zudem zahlreiche Informationen, die die persönlichen Überzeugungen untermauern. Dies stellt einen tiefgreifenden Wandel in unserer Kultur und unserem Denken dar. Zwischen Fake News und der Wahrheit existiert eine Grauzone, in der wir oft unsicher sind, was tatsächlich wahr ist. Ein Beispiel hierfür ist der Beginn der Covid-Pandemie, als die Behauptung aufkam, das Virus stamme aus einem chinesischen Labor und sei von der chinesischen Regierung absichtlich verbreitet worden. Zu dieser Zeit wurde dies als Fake News eingestuft, während es heute eine andere Sichtweise darauf gibt. In Situationen, in denen es in der Gesellschaft zu Problemen kommt und die Frage nach den Verantwortlichen aufkommt, gibt es eine lange historische Denktradition, die Juden als Sündenböcke identifiziert. Es ist tragisch, dass es oft so einfach erscheint, Juden für alle Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, die wir in unserem Leben erleben. Der Anstieg des Antisemitismus in der heutigen Zeit ist eng mit dieser historisch gewachsenen Schuldzuweisung verbunden. Diese Neigung wird als Mechanismus genutzt, um einen Sündenbock zu finden oder eine Erklärung für herausfordernde Lebensumstände zu bieten. Ein entscheidendes Problem hierbei ist, dass viele Menschen wenig über Geschichte wissen. Ohne das nötige historische Wissen fällt es leichter, solchen Fake News Glauben zu schenken. Welchen Weg sollte die Gesellschaft künftig einschlagen, um einen konstruktiven Dialog zu fördern? I Es ist sehr schwierig, Verbesserungen herbeizuführen. Gesellschaften tendieren generell dazu, illiberale Lösungen den demokratischen vorzuziehen.

„Gesellschaften tendieren dazu, illiberale
Lösungen den demokratischen vorzuziehen.
Das
Vertrauen der Menschen in
die illiberale Demokratie ist oft größer.“ 

Das Vertrauen der Menschen in die illiberale Demokratie ist oft größer. Dennoch ist es unerlässlich, Demokratie und demokratisches Denken zu fördern, um Fortschritte zu erzielen. Demokratie beinhaltet eine offene Debatte und konstruktive Kritik; sie erfordert, dass Menschen einander zuhören. Sie steht für Verhandlungen und Kompromisse. Zudem bedeutet Demokratie auch die Achtung der Rechtsstaatlichkeit. Aktuell wird dies jedoch zunehmend in Frage gestellt, wie wir beispielsweise in den USA beobachten können. Der Antisemitismus lässt sich heute nicht effektiv bekämpfen, solange der israelisch-palästinensische Konflikt nicht auf eine für beide Seiten akzeptable Weise gelöst wird. Die Menschen im Nahen Osten befinden sich im Zustand eines Kriegs, während andere Länder oft nur eine verzerrte Wahrnehmung dessen haben, was dort geschieht. Fortschritte im Kampf gegen den Antisemitismus in Europa werden unweigerlich ins Stocken geraten, solange es im Nahen Osten keine nennenswerten Fortschritte gibt.

Gerät der Humanismus in Vergessenheit?

Michel Wieviorka: Kulturelle Differenzen und kollektive
Identitäten Hamburger Edition 2003, 246 S., 25 €

I Ich benutze den Begriff „universalistisch“, aber das ist dasselbe wie „humanistisch“. Wenn ich Netanjahu heute zuhöre, höre ich keinen Humanisten. Wir müssen versuchen, eine humanistische Art zu finden, uns zu verhalten, zu reden und zu handeln.

Wird es in Zukunft wieder eine Zeit geben, in der Antisemitismus zurückgeht?

I Antisemitismus wird nie ganz verschwinden, auch wenn seine Ausprägung im Laufe der Zeit stark schwanken kann. Momentan hoffe ich, dass wir uns auf einem relativ hohen Niveau befinden und dass dieser Hass im Laufe der Zeit wieder abnimmt. Antisemitismus ist eine Form des Hasses, der seinen Ursprung vor über 2.000 Jahren hat. Angesichts der langen Dauer eines so belastenden Phänomens ist es schwer vorstellbar, dass es völlig aus unserer Gesellschaft verschwindet. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass Antisemitismus an Einfluss und Bedeutung verliert. Ein zentraler Aspekt in diesem Zusammenhang ist sicherlich die politische Lösung des israelisch- palästinensischen Konflikts.


Michel Wieviorka wurde 1946 in Paris geboren. Er ist ein international gefragter französischer Soziologe und stammt aus einer jüdischen Familie polnischer HolocaustÜberlebender. Bekannt wurde er durch seine Forschungen zu Gewalt, Terrorismus, Rassismus, sozialen Bewegungen und gesellschaftlichem Wandel. Er zählt zu den einflussreichsten und medienpräsentesten Intellektuellen Frankreichs sowie zu den weltweit führenden Sozialwissenschaftlern. Ein zentrales Element seiner Arbeit ist die von ihm entwickelte Methode der intervention sociologique, die er zur Analyse militanter sozialer Bewegungen einsetzt. Inspiriert von Max Webers Konzept der verstehenden Soziologie, zielt sie darauf ab, die subjektiven Handlungslogiken von Akteuren im Kontext größerer gesellschaftlicher Konflikte zu erfassen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen soziale Bewegungen, Rassismus, Terrorismus, Gewalt, Multikulturalismus sowie die Bedrohungen der Demokratie. Er plädiert für einen stärkeren Einsatz von Vernunft, historischer Erkenntnis, soziologischer Vorstellungskraft und kritischem Denken – alles im Dienst des demokratischen Ideals.

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