Alte Sprache, neuer Kontext

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Wie Interessierte bei einer Tour im Tel Aviver Stadtviertel Florentin anhand von Graffiti, Kanaldeckeln und Haustier-Verlustanzeigen ihre Hebräischkenntnisse aufbessern können. Nachrichten aus Tel Aviv von Gisela Dachs

Ab wann beherrscht man eine Sprache wirklich? Diese Frage hat sich Guy Sharett gestellt, als sich seine Hebräischschüler im Sommer 2011 ziemlich schwer taten, die Sprüche auf den Plakaten der Demonstranten auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard zu verstehen. Seither geht er mit ihnen oft auf die Straße, um Graffiti zu erklären. Längst nimmt er dabei auch andere Interessierte mit, sofern die Grundkenntnisse einigermaßen solide sind. Seitdem die New York Times ganz vorn auf der Titelseite von diesem Freiluftunterricht berichtet hat, ist es kein Insider-Tipp mehr. Das macht die Tour aber nicht weniger lohnenswert.

Über facebook haben sich die fünfzehn Leute für diesen Abend angemeldet. Treffpunkt: Herzl-Straße, Ecke Florentin. Amerikanische Studenten sind eigens für die Tour aus Jerusalem angereist; ein älterer Rechtsanwalt aus Nizza, der früher einmal im Kibbuz war, will sein Vokabular auffrischen, ebenso wie zwei religiöse Touristenehepaare. Auch das Fernsehteam eines arabischen Senders in den Vereinigten Staaten kommt zum Stelldichein. Nachdem für alle geklärt wurde, dass es sich um ein staatlich finanziertes amerikanisches Unternehmen handelt, also keine anti-israelische Propaganda ist, kann es losgehen. Guy verteilt an die Teilnehmer kleine Blöcke und Stifte, damit sie sich neue Vokabeln und anderes Gelerntes notieren können; er selbst ist mit einer weißen Tafel und Schwamm ausgestattet und führt so das wandelnde Klassenzimmer an. Auf Hebräisch.

Da fragt man sich: Ab wann beherrscht man eine Sprache wirklich?

„Squatt“ steht an der ersten Wand, vor der die Gruppe Halt macht. Darunter eine Erklärung: „Bait lelo-anashim le-anashim bli bait. (Ein Haus ohne Leute für Leute ohne Haus.)“ Darüber, ob ein Squatt legitim sei oder nicht, wird kurz in der Gruppe diskutiert, dann nimmt Guy das Wort „Reshut“ (Erlaubnis) zum Anlass für eine kleine sprachliche Exkursion einschließlich des Wortes Führerschein („rishaijon nehiga“) und der Kinderfrage: „Mama, erlaubst du mir ein Eis? (Ima at marsha-li glida?)“ Wenn es gar nicht anders geht, übersetzt er oder einer der Teilnehmer ins Englische. Ganz nebenbei führt der 40-jährige Israeli dabei auch durch sein Stadtviertel.

Florentin wurde in den 1920er-Jahren von Juden aus Saloniki gegründet

Zu ihrer Erinnerung gibt es eine Synagoge mit einem großen Schild über dem Eingang, das ebenfalls genau gelesen wird. Guy erläutert die Abkürzungen, die Endungen, die Jahreszahl in Buchstaben. Er wird gleich auch den Platz zeigen, wo bis vor Kurzem noch eine Mikwe stand. Jetzt liegen dort nur mehr ein paar Steine. Die vielen Baukräne signalisieren deutlich: Hier wird viel abgerissen, saniert und gebaut. Guy würde sich gern weniger davon wünschen. „Haltet mit euren Kameras fest, was es hier noch gibt, wer weiß, wie lange es noch stehen wird!“, fordert er seine Gefolgschaft auf.

In dem sich verändernden Florentin, eine Mischung aus einem immer noch funktionierenden Werkstattviertel und alternativen Wohn- und Vergnügungsviertel, wurde bereits in den 1990er-Jahren eine gleichnamige Fernsehserie gedreht. Touristen sind aber nach wie vor rar. Der Weg der Gruppe führt durch kleine Straßen mit Gemüsehändlern und Burekkas-Läden, zu denen sich Bars und Cafés gesellt haben. Ein Kanaldeckel aus dem Jahr 1935 mit der Inschrift des Herstellers. Guy macht darauf aufmerksam, dass damals „Irija“ (Stadtverwaltung) nur mit einem „iud“ – statt wie heute mit zwei – geschrieben wurde. „Damals gab es noch keine klaren Sprachenstandards.“ Gegenüber ist ein Bild von Herzl an die Wand gesprüht, das man überall in Tel Aviv finden kann. Darunter steht: „Lo rozim, lo zarich.“ Natürlich kennen die Lernenden Herzls berühmten Spruch „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, aber es dauert, bis sie die ironische Abwandlung begreifen: „Wenn ihr nicht wollt, müsst ihr nicht“ (oder: „dann lasst es sein“). Später taucht noch ein anderes Sprühbild auf, das schreckliche Assoziationen hervorruft: Es erinnert an den kleinen Jungen im Warschauer Getto mit angstvoll erhobenen Händen. „Al tegaresch oti“ steht darunter, „Vertreibt mich nicht“, und Guy erklärt den israelischen Kontext: Es handelt sich um ein Zeichen der Solidarität mit den Kindern von Gastarbeitern, die von der Abschiebung bedroht sind.

An einer der vielen Tierhandlungen im Viertel hängen Suchzettel für verlorene Lieblinge; Guy lässt Teilnehmer der Gruppe wie immer laut lesen, lobt die Aussprache und nimmt das Vokabular wie immer zum Anlass eines kleines linguistischen Exkurses – samt Abfragen.  „Um eine Sprache zu verstehen, muss man auch die Kultur kennen“, erklärt Guy Sharett, dessen Großonkel Moshe der zweite Premierminister des Landes war. Wenn in einem populären Lied ein Wort verändert wird, versteht das jeder Hiesige sofort, aber jemand, der den Text nicht kennt, kann damit nichts anfangen.

Ziel ist, Inschriften, Graffitis und Anzeigen des täglichen Lebens bewusster lesen zu lernen.

Guy ist mit Sprachen aufgewachsen, sein Vater war im Hafen von Ashdod Schipper, es gab oft Gäste zuhause, außerdem türkische Nachbarn und ein deutsches Au-pair-Mädchen. Seinen Unterricht auf der Straße hat er für Ulpan-Aussteiger konzipiert, von denen es mehr gebe, als man glauben möchte. Sein Repertoire hat sich mittlerweile erweitert. Man kann mit Küchenchefs auf dem Carmel-Markt kochen, den Gewürzmarkt besuchen oder die lokale Version von Wer wird Superstar bei Guy zuhause im Fernsehen anschauen.

Am anderen Morgen muss er früh aufstehen, sein nächster Unterricht findet um halb acht am Friedhof Trumpeldor statt. Auf den Grabplatten gibt es jede Menge Inschriften, die sehr ergiebig sind.

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