„Am Ende sind wir alle Wiener Juden“

Dezoni „Jony“ Dawaraschwili vertritt die georgische Gemeinde seit 2002 im Vorstand der IKG Wien. Im Gespräch mit WINA erklärt er jedoch, warum es ihm immer um die Interessen der gesamten jüdischen Gemeinde geht.

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Dezoni Dawaraschwili, geb. 1974 in Tskhinvali/Georgien, 1979 Ausreise nach Israel über Österreich, Ende 1979 übersiedelt die Familie nach Wien. Bereits während der Schule im elterlichen Geschäft (Handel mit Waren aller Art), heute als Unternehmer in verschiedenen Bereichen tätig. Dawaraschwili betreibt u .a. eine Baufirma, ist aber auch in Immobilienprojekten engagiert. Dem Kultusvorstand gehört er seit 2002 an, von 2012 bis 2022 war er als Vizepräsident auch Teil des Präsidiums der IKG, seit 2023 ist er gewählter Vizepräsident der Israelitischen Religionsgesellschaft (IRG). Dawaraschwili ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Foto: Daniel Shaked

WINA: Wo sehen Sie die georgische Gemeinde innerhalb der jüdischen Gemeinde? Dezoni „Jony“ Dawaraschwili: Für mich sind die georgische und die jüdische Gemeinde ein- und dasselbe. Wir sind Teil der großen jüdischen Familie. Wir tragen mit allen Vor- und Nachteilen zu ihr bei. Wir verstehen uns alle als gleichberechtigt, voll integriert und möchten in der Zukunft wie schon in der Vergangenheit in dieser Einheitsgemeinde weiter unsere positive Energie einbringen.

Wie groß ist die georgisch-jüdische Community heute, und wie hat sie sich seit der Ankunft der ersten georgischen Juden in Wien in den 1970er-Jahren entwickelt?
I Es gibt derzeit ungefähr 150 Familien, das sind 500 bis 600 Personen. Es gab auch schon einmal mehr georgische Juden in Wien; das hatte aber auch damit zu tun, dass Wien eine Zeitlang Drehscheibe für Geschäft in Osteuropa war, das hat sich dann aber wieder in die einzelnen Länder selbst verlagert. Da sind Menschen nur aus beruflichen Gründen nach Wien gekommen, dann nach ein paar Jahren aber wieder weitergezogen. Jene, die heute noch da sind, haben auch ihren Lebensmittelpunkt in Wien.
Wir sind eine florierende Gemeinde. Zum Gebet sind immer 60, 70 Leute in unserer Synagoge. Zur Frage, ob man etwas besser machen kann, kann ich nur sagen, dass es immer Bedarf gibt zu reflektieren und wir ständig bemüht sind, unsere Arbeit für die Community als auch in der IKG besser zu gestalten.
Was für mich wichtig ist: Selbstverständlich achte ich darauf, dass Georgische sowohl in meiner Familie als auch in der Synagoge zu erhalten. Wichtiger ist aber für mich, dass wir Juden sind. Und noch wichtiger ist, dass wir Wiener Juden sind! Das ist allem anderen voranzustellen. Wie der Aschkenase, der Orthodoxe der Buchare, der Kavkase, der Georgier etc. sein Gebet abhält oder sein Essen genießt, ist jedem selbst überlassen. Das Gemeinsame war und ist das Judentum mit all seinen Facetten.

Werte, Traditionen, Haltungen: Was aus der alten Heimat Georgien wird bis heute in der Community gepflegt und hochgehalten?
I Georgische Juden gibt es seit über 2.600 Jahren. Wir haben in Georgien nie Repressalien oder Verfolgung erlebt. Wir waren Bürger wie alle anderen auch. Es gab das nicht, dass man vorbeiging und sagte, man kann unterscheiden zwischen Juden und Georgiern. Zu Hause hat dann jeder seine Religion oder Weltanschauung gelebt. Natürlich, der Kommunismus hat überall in Osteuropa sein Unwesen getrieben. Nichtsdestotrotz konnten wir, zwar ein bisschen versteckt, aber doch, unsere Religion leben und vor allem das Judentum nicht verlieren. Anders als in anderen Teilen der früheren Sowjetunion war es in Georgien auch immer möglich, Brit Mila zu machen. Das war ein Luxus, den es zum Beispiel in Russland nicht gab.
Georgien ist bis heute für uns kulturell wichtig. Was wir nicht sind, ist eine Reformgemeinde. Wir sehen uns als orthodoxe Gemeinde, inwieweit jeder Einzelne sein Judentum lebt, ist jedem selbst überlassen. In allen Familien werden die Traditionen gepflegt, wie, zum Beispiel, die Feiertage zu begehen. Wir haben außerdem einen sehr starken Familienzusammenhalt. Das ist etwas sehr Typisches in unserer Gemeinde und mir auch persönlich wichtig. Was ich aber zum Beispiel nicht gemacht habe: meinen Kindern Georgisch beigebracht. Mir war es wichtiger, dass sie Hebräisch können – viele andere Familien halten es ebenso.

„Für mich sind die georgische und die
jüdische Gemeinde ein- und dasselbe.
Wir sind Teil der großen jüdischen Familie.“

 

Das Georgische wird also nicht mehr weitergegeben. Warum ist es Ihnen aber wichtig, dass Ihre Kinder Hebräisch sprechen – das ist dann ja sozusagen etwas Neues in Ihrer Generation?
I Wie erkläre ich das? Es ist wichtiger für mich, dass sie Hebräisch können, als dass sie jede andere Sprache beherrschen. Und ich hoffe, dass auch meine Kinder das mit ihren Kindern so halten werden. Wir haben unseren Familiennamen nicht geändert, das wollten wir nicht. Ich habe aber auch schon Georgisch als Kind nicht gelernt, sondern nur Russisch gesprochen. Ich habe im Alter von 17, 18 erst begonnen, Georgisch zu lernen, heute spreche ich es sehr gut. Lesen und schreiben kann ich es aber nicht. Ich hoffe, dass meine Kinder später einmal ein ähnliches Interesse entwickeln. Ich merke zum Beispiel bei meinem älteren Sohn, der Medizin studiert, dass er inzwischen manchmal fragt: Was bedeutet das oder das? Ich kann es ihm noch beantworten. Meinen Enkeln werde ich auch noch übersetzen können. Aber ob sich die Sprache langfristig halten wird, wird davon abhängen, ob man sich darum bemüht. Ich finde, wichtiger ist, die Sprache zu sprechen, mit der man lebt, die man braucht. Darüber hinaus gilt: je mehr Sprachen, desto besser.

Wie wichtig ist es in der Community heute noch, georgisch zu heiraten?
I Wichtig ist, jüdisch zu heiraten. Natürlich gibt es Familien, denen auch das Georgische ein Anliegen ist. Ich persönlich sage: Ich bin Teil der jüdischen Gemeinde hier, ich bin Teil dieser Gesellschaft, ich habe vor, hier zu bleiben und hier zu leben. Wenn nun mein Sohn morgen sagt, ich möchte eine Aschkenasin heiraten oder eine Bucharin, werde ich der Letzte sein, der sagt, nein, bitte nicht. Das ist eigentlich gar kein Thema für mich.

Problematisch wäre es nur, nicht jüdisch zu heiraten?
I Ja, das wäre ein Problem für mich.

Die georgische Synagoge befindet sich im „Sefardischen Zentrum“. Würden Sie die Community auch im sephardischen Judentum einordnen?
I Da gehen die Meinungen auseinander. Was wir sicher sind, ist orthodox, also der Ritus in unserer Synagoge ist orthodox. Ich versuche es vielleicht an Hand meiner Geschichte ein bisschen zu erklären: Ich selbst bin nicht sehr religiös aufgewachsen. Ich habe gewusst, dass ich Jude bin, ich habe kein Schweinefleisch gegessen, ich habe auch Tfillim gelegt, aber ohne eben religiös zu sein. Und zu den Feiertagen war ich in der Synagoge. Es war aber für mich nie ein Thema, ob wir unser Judentum reformieren sollen oder nicht. Vor etwa 19 Jahren habe ich dann begonnen, mich mehr mit Religion auseinanderzusetzen. Heute bin ich dagegen, die Religion zu reformieren, und das sieht man auch in unserer Gemeinde so. Das ist für uns ein Nogo, auch gesellschaftlich. Jeder soll aber so leben und die Dinge so halten, wie er möchte oder kann.

Wie würden Sie den Grad der Religiosität beschreiben? Im Sefardischen Zentrum ist ja auch die Synagoge der bucharischen Gemeinde, die in den vergangenen Jahren mehrheitlich observanter geworden ist.
I Ob das tatsächlich in der gesamten bucharischen Gemeinde der Fall ist, können Vertreter der bucharischen Gemeindeführung besser beantworten. Das kann und möchte ich nicht beurteilen. Aber ja, da gibt es inzwischen viele sehr religiöse Familien. Wenn ich unsere georgische Gemeinde ansehe: Ja, zu Jom Kippur ist die Synagoge heute sehr voll. Und wenn ich mich an die Zeit vor 20, 25 Jahren erinnere, da hatten wir mit Mühe einen Minjan, heute kommen in der Früh täglich 20 Leute und am Schabbat 60 bis 70, oft auch 80. Vor allem aber kommen heute mehr Jugendliche zum Gebet. Und das ist das, was diese Synagoge gebraucht hat: dass die Jugend kommt. Was eine lebendige Gemeinde ausmacht, ist, dass Menschen aus allen Generationen präsent sind. Und ich bin sehr froh, dass das bei uns heute der Fall ist.

Welchen Beitrag leisten hier die jüdischen Schulen?
I Synagogen, Schulen und ein Altersheim: Das sind für mich die Grundfesten einer Kehille. Wenn gespart werden muss, wie aktuell, kann man auf vieles verzichten, aber nicht auf diese drei Säulen der jüdischen Gesellschaft. Schulen sind wichtig, damit junge Menschen ein aktiver Teil der Gemeinde bleiben und vor allem damit das Judentum weiterbesteht.

Mir fiel auf, dass der Begriff „grusinisch“ früher öfter zu hören war als heute, heute wird meist das Wort georgisch verwendet. Welchen Grund hat das? Hat sich die Konnotation des Worts inzwischen verändert?
I Für mich ist grusinisch und georgisch dasselbe. Ich sage aber auf Iwrit „Ani Grusini“ und auf Deutsch „Ich bin Georgier“.

Sie vertreten nun schon viele Jahre die Interessen der georgischen Gemeinde im Vorstand der IKG. Wie wichtig ist diese Vertretung?
I Ich sehe die georgische Gemeinde eben als Teil des Ganzen. Es muss um die Interessen aller gehen – und wenn es für alle passt, dann profitieren auch alle. Am Ende sind wir alle Wiener Juden. Meine Kinder sind alle in Wien geboren und nicht mehr, so wie ich, in Georgien. Man muss Klischees hinter sich lassen. Jeder hat sein Eckerl und sein Stüberl, aber wenn ich heute durch die Straßen gehe, dann grüße ich nicht nur georgische Juden, sondern jeden, den ich kenne. Worüber ich mich freue: dass es gelungen ist, in Wien einen Beit Din einzurichten. Und einer der hier tätigen Rabbiner kommt aus der georgischen Gemeinde, Rabbiner Yaakov Hotoveli. Er ist zugleich auch der Av Beit Din, also der Vorsitzende des rabbinischen Gerichts.

Welche besonderen Bedürfnisse hat die georgische Community heute?
I Wir haben unsere Synagoge, wir haben unseren Rabbiner, es gibt für die Älteren eine Drusche auf Georgisch. Ja, die Synagoge könnte größer sein, und wir haben die Suche nach anderen Räumen noch nicht aufgegeben. Wenn es so sein soll, wird der Herrg’tt schon helfen. Ich versuche immer, die Bedürfnisse der ganzen jüdischen Gemeinde im Blick zu haben. Und wenn ich einen Wunsch äußern darf: Ich wünsche mir, dass wir das Gemeinsame voranstellen. Das Wichtigste ist, dass das Judentum erhalten bleibt.

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