„Anfangs wollte niemand glauben, dass es in Wien Hunger gibt“

Renate Erbst gründete 1999 in Wien den Verein Ohel Rahel, der Juden in finanzieller Not mit Lebensmitteln versorgt.

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©Ronnie Niedermeyer

WINA: Bis zu Ihrer Pensionierung haben Sie in der Privatwirtschaft gearbeitet.
Renate Erbst: Zuerst war ich im Banksektor beschäftigt, unter anderem bei der Bank Winter. In den 1980er-Jahren bekam ich eine Stelle bei einem Import-Export-Unternehmen, das sich zunächst auf das Bartergeschäft mit Ländern hinter dem Eisernen Vorhang spezialisierte. Das war eine wirklich spannende Zeit, in der der Ostblock noch Ostblock war, mit all seinen Kontrollen und Restriktionen. Meine Aufgabe war es, Handelspartner für diverse Produktgruppen zu finden. Gute Beziehungen waren maßgeblich, diese musste ich aber erst aufbauen. In Fliegern nach Sofia oder Moskau war ich oft die einzige Frau an Bord unter lauter Männern. Bei den diversen Kontoren waren wiederum fast nur Frauen angestellt. Die waren es gewöhnt, von den besagten männlichen Geschäftspartnern aus dem Westen hofiert zu werden. Als ich stattdessen dort ankam, waren manche enttäuscht, andere positiv überrascht. Zum Teil haben sich Freundschaften ergeben, die bis heute halten.

Welche Fertigkeiten und Erfahrungswerte aus dieser beruflichen Phase können Sie bei Ohel Rahel einsetzen?
❙ Aus dem Nichts etwas entstehen zu lassen. Nebenbei war ich ja auch bei einem Hersteller von Kopiergeräten als Area Manager für Bulgarien und Rumänien tätig. Damals durfte man keine Kopiergeräte in den Osten verkaufen, Ersatzteile aber schon. So kam ich auf die Idee, in Wien brandneue Maschinen in ihre Einzelteile zerlegen zu lassen und diese den Kunden als Ersatzteile zu verkaufen. Vor Ort wurden die Teile dann wieder zusammengefügt, und die Kunden hatten brandneue Kopiergeräte. So konnten wir das Gesetz umgehen. Auch bei Ohel Rahel waren oft kreative Lösungen notwendig, nicht nur beim Aufbau.

„Wir fragen die Menschen
nie nach ihrer
Herkunft.“

Kommen wir auf diesen Aufbau zu sprechen. Welche Hürden galt es zu bewältigen?
❙ Zu allererst: einen Vorstand zu finden, der die ganze Gemeinde abdeckt. Also Orthodoxe, Traditionelle und Säkulare wie auch Bucharen, Georgier, Aschkenasen … Jede Frau sollte ihren „Teich“ haben, in dem sie nach Spenden fischen kann. Doch das Schwierigste war zu verstehen, dass es in Wien Hunger gibt. Anfangs wollte das niemand glauben.

Ähnlich wie manch anderer wohltätiger jüdischer Verein in Wien, besteht auch das Team von Ohel Rahel ausschließlich aus Frauen. Haben Männer weniger Interesse an karitativer Arbeit, oder funktioniert die Leitung mit einem reinen Frauenteam einfach besser?
❙ Ich persönlich hätte kein Problem damit, wenn auch Männer in den Vorstand kämen. Dazu gibt es aber zwei Bedenken: Erstens würde die Anzahl der Vorstandsmitglieder womöglich zu sehr ausarten. Zweitens entspricht es eher der jüdischen Tradition, dass das Sozialwesen in der Gemeinde von Frauen gestützt wird.

Namensgeberin des Vereins ist die biblische Rachel, die vor allem Reisende in ihrem Zelt aufnahm und versorgte. In welchem Verhältnis stehen Juden mit Migrationshintergrund zu alteingesessenen Wiener Juden unter jenen, die auf Ihre Lebensmittelspenden angewiesen sind?
❙ Da die Spenden anonym erfolgen, kenne ich keine genauen Zahlen. Die Identität der Empfänger wissen nur jene, die für die Verteilung zuständig sind – das sind Mitarbeiter von ESRA und drei Rabbiner. Auch sie würden die Menschen nie fragen, woher sie kommen. Bei uns ist die Anonymität voll gewährleistet, und das gilt auch für die Herkunft.

Wie wird entschieden, wer wie viel bekommt, ohne dass ein Einkommensbescheid verlangt wird?
❙ Unsere Mitglieder stellen in ihrem jeweiligen Umfeld fest, wer sich in einer Notlage befindet und Unterstützung braucht. Diese Entscheidung basiert zum Teil auf vorhandenem Hintergrundwissen über diese Personen, zum Teil auf psychologisches Feingefühl. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass bei uns keine administrativen Kosten entstehen und die Spenden somit zu 100  % weitergegeben werden.

Was ist Ihr nächstes Ziel?
❙ Ich bin nicht mehr so agil wie früher und kann mich nicht so anstrengen. Daher suche ich eine Nachfolgerin, die Ohel Rahel weiterführt. Ich hoffe, ich darf dann als Ehrenpräsidentin bleiben!

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