Anna mit dem Saxofon

Fünf Tage nach ihrem 29. Geburtstag fielen Raketen auf Kiew. Nach einer gefährlichen Flucht möchte die junge Musikerin Anna Kypiatkova in Wien durchstarten.

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© Privat

Schauplatz ist das Theater Drachengasse im ersten Bezirk am ersten April-Samstag: Kaum ist die Musik verklungen, der Applaus verebbt, schultert die junge Frau den klobigen Koffer mit ihrem Saxofon und läuft in den Regen hinaus. Anna hat noch einen weiteren musikalischen Auftritt an diesem Abend, und sie muss pünktlich sein: Beide Gigs hat sie spontan durch persönliche Empfehlungen bekommen, und sie darf niemanden enttäuschen. Menschlicher Beistand ist jetzt ihr wertvollstes Gut: Anna Kypiatkova erreichte das sichere Wien erst vor einigen Wochen, nach einer überstürzten und gefährlichen Flucht aus Kiew.
„Ich spiele mehrere Instrumente, aber als es galt, schnell das Wichtigste zu packen, entschied ich mich für das Saxofon.“ Ein bemühtes Lächeln huscht über das zarte Gesicht der 29-Jährigen, als sie traurig anmerkt, dass sie nicht nur ihre Wohnung samt Inhalt, sondern auch ihren älteren Bruder und die gesellige Katze verlassen musste. „Am 19. Februar habe ich noch mit Freunden meinen Geburtstag gefeiert, ein paar Tage später wurde ich vom Detonationslärm über der Stadt frühmorgens aufgeschreckt.“ Auf dem I-Phone fand sie nur besorgte Fragen und die schlimme Nachricht, dass Kiew bombardiert wird. „Ich lief verwirrt in der Wohnung herum, dann schnappte ich meinen Laptop, das Saxofon, den einzigen Goldring, den ich besitze, meine Katze und den Reisepass. Ich fuhr zum Bahnhof, um einen Zug nach Lemberg zu erwischen.“ Das aggressive Gedränge auf dem Bahnhof war so unerträglich, dass Anna bald kapitulierte.

„Ich lief verwirrt in der Wohnung herum,
dann schnappte ich meinen Laptop,

das Saxofon, den einzigen Goldring,
den ich besitze,
meine Katze und den Reisepass.“

Dann ging alles sehr schnell: Annas Bruder Nikolaj setzte sich im 600 Kilometer südlich von Kiew entfernten Mykolajiw ins Auto und raste zur Schwester in die Hauptstadt. „Nikolaj wollte mich mit dem Wagen an die polnische Grenze bringen, denn Flüge gab es nach dem 24. Februar bald keine mehr“, berichtet die Musikerin. Kurz vor der Abfahrt rannte ihnen eine Frau mit Tochter entgegen und bettelte darum, mitfahren zu dürfen. Die Grenze zu Polen konnten die vier verschreckten Menschen nicht erreichen, weil sie auf den Ausfahrtsstraßen ständig unter Artilleriebeschuss kamen. „Wir mussten ständig wenden und nach Auswegen suchen. Dann schafften wir es endlich in Richtung Republik Moldau zum Grenzübergang Mamalyha.“
Was Hilfsbereitschaft in diesen Tagen bedeutete, erfuhr Anna bereits an der Grenze: „Einzelne Frauen sprachen uns – wildfremde Menschen – an, luden uns in ihre Wohnung ein, wo sie uns mit allem versorgten. Es war unfassbar“, erinnert sich Anna. Der Ehemann der Quartiergeberin brachte sie dann bis zur rumänischen Grenze. „Dort traf ich auf einen Armenier, der mir auch zu essen gab. Er half mir, ein Bussticket nach Bukarest zu kaufen.“ Dort kam Anna total erschöpft nach einer 15-stündigen Fahrt an.

Anna Kypiatkova
musste aus Kiew flüchten
und fand in Wien Schutz
und einen musikalischen
Neubeginn. © Reinhard Engel

Ihr Zielort war Wien, denn da hat sie Freunde, unter anderen einen iranischen Musiker, der bereits zehn Jahre in Wien lebt und den sie von ihren musikalischen Tourneen kannte. Denn vor „normalen“ Reisen und professionellen Abenteuern in Friedenszeiten war Anna nie zurückgeschreckt – im Gegenteil, sie musizierte mit unterschiedlichen Formationen nicht nur in China, sondern auch in Saudi-Arabien. „Ich hatte sowohl ein israelisches Studenten- wie auch ein Arbeitsvisum im Reisepass, aber die Saudis haben nicht nachgefragt“, wundert sich die Tochter einer Ingenieurin und eines Ingenieur, die 1993 in Mikolajiw in der Nähe von Odessa geboren wurde. Bereits mit sechs Jahren bekam Anna Gesangsunterricht, da die Mutter ihr gutes Gehör entdeckt hatte. „Ich war sehr schüchtern und habe eher leise gesungen, deshalb empfahl meine Lehrerin, dass ich Flöte lernen sollte, um meine Lungen zu stärken. Die Flöte lag mir nicht so sehr, ich entschied mich für das Saxophon, das war cooler und jazzy!“
Das permanente Üben mit elf Jahren fiel Anna schwer, denn sie wollte lieber mit ihren Freundinnen Spaß haben. Aber mit 15 kam die Wende: Ein außergewöhnlicher Lehrer und Musiker an der Musikschule in Mikolajiw begeisterte sie so sehr, dass sie nicht nur plötzlich fleißig wurde, sondern mit 17 Jahren befand, dass ihre Geburtsstadt für eine Karriere als Musikerin zu klein war, und so zog sie nach Kiew, um dort das Musikkonservatorium zu besuchen. „Ich stand um 6 Uhr früh auf und probte täglich fast sieben Stunden – es hat sich gelohnt“, weiß Anna. Gleich nach dem Studienabschluss engagierte man sie als Teil einer 20-köpfigen Künstlergruppe für eine zweimonatige Tournee durch sechs deutsche Städte, darunter Bremen, Hannover und München.
„Das war eine wunderbare Erfahrung, und bald darauf folgten Auftritte in Indien Dort engagierte man uns für Hochzeiten und Feste à la Bollywood“, lacht die Brünette, die sich manchmal die Haare auch feuerrot färbt. Die Indien-Tournee dauerte zwei Monate, mit dem Honorar konnte sie sich danach in Kiew eine Wohnung kaufen. „Es hält mich nicht lange an einem Ort, und so unterschrieb ich einen dreimonatigen Kontrakt für China.“ Das reine Frauenorchester spielte 2016 klassische Musik für chinesische Ohren. Danach formierte sich eine fünfköpfige weibliche Blasinstrumentengruppe, die in der Folge für eine Kreuzfahrt von St. Petersburg bis nach Miami und zu den karibischen Inseln führte. An dieser regen Auslandstätigkeit scheiterte auch ihre kurze Ehe, weil sie beide als Musiker ständig separat unterwegs waren.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass wir sehr religiös waren, aber mit 12 gingen ich und mein Bruder in die jüdische Schule und zu den Aktivitäten von Chessed Fund. Meine Großmutter war Mitglied der jüdischen Gemeinde, wir gingen manchmal in die Synagoge.“ Nach der Maidain-Revolution 2014 machten Großmutter, Mutter und der jüngere Bruder Alija nach Israel. Annas Vater war gestorben, als sie elf Jahre alt war. „2020 war ich sieben Monate im Oranim Academic College* in der Nähe von Haifa und habe dort Ivrith und jüdische Fächer studiert, aber ich wollte, ehrlich gesagt, in Europa leben und arbeiten“, erzählt sie. Verursacht durch die kulturlose Pandemie war Anna kurzfristig auch Geschäftsfrau: Mit ihrer Freundin und Geigerin eröffneten sie einen italienischen Eissalon in Kiew: „Wir mussten von etwas leben!“ Kurz vor ihrem 29. Geburtstag kehrte Anna im Februar 2022 von der Tournee aus Jedda nach Kiew zurück. „Wir waren zwei Monate dort, haben sogar für den Formel-1-Zirkus gespielt“, lacht sie. Als sie fünf Tage vor Kriegsbeginn mit Freunden feierte, konnte sie nicht ahnen, dass sie zwölf Tage später in Wien als Flüchtling landen würde. Ein Bekannter aus Kiew gab ihr die Kontaktdaten zur IKG in Wien. „Gleich hat mich Rabbi Moshe Kalamoizev für Schabbat eingeladen, dann habe ich sogar zwei Wochen für ihn arbeiten dürfen. Ich habe die Listen der anderen Geflüchteten zusammengestellt. Die Unterstützung und Hilfsbereitschaft war einfach überwältigend“, berichtet die Musikerin, die hier gerne Fuß fassen möchte. Ein englischsprachiges Ehepaar aus der jüdischen Gemeinde nahm Anna einige Tage bei sich auf, bis die IKG eine kleine Wohnung für sie zur Verfügung stellen konnte. Das Einzige, was noch zu ihrem neuen Glück fehlte, war das Saxofonspielen. Aber auch da traf sie auf offene Ohren und Herzen: Der Komponist und Chorleiter Roman Grinberg baute sie ebenso spontan in sein MuTh-Programm als Special Guest ein wie der Pianist und Musiker Belush Korenyi für die Auftrittsserie im Theater in der Drachengasse.

* Oranim ist eine Pädagogische Hochschule im Norden Israels. Das College wurde
1951 von der Vereinigten Kibbuz-Bewegung gegründet

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